Last Exit
und wenn dann am Donnerstagabend ein Kamerad, ein Funktionär der Radikalen Partei, einen Besuch bei der amerikanischen Botschaft vorschlägt, kann man sich dem nicht entziehen.
All seine Vorfahren marschierten hinter Radovan und beobachteten voller Freude, wie er auszog, um der monolithischen Nation, die Geschichte als belangloses Bücherwissen abtat, eine Lektion zu erteilen. Die Geschichte, so seine Lektion, war das Blut, das einen am Leben hielt. Geschichte war das, was den Menschen vom Tier unterschied. Und das sollte den Amerikanern heute eingehämmert werden.
Es war herrlich. Atemberaubend leicht drangen sie ein, denn die Marines, die das unauffällige Gebäude an der Ulica Kneza Miloša bewachten, rannten davon wie ungezogene Schüler, die hofften, dass sie der Lehrer im hinteren Teil des Klassenzimmers nicht entdecken würde. Schon gingen Fenster zu Bruch, betrunkene Geschichtslehrer kletterten die Fassade hinauf und glitten mit zappelnden Beinen ins Innere. Grölend liefen sie durch die engen, schummrigen Korridore des leeren Hauses und pochten an verriegelte Türen, hinter denen sich bestimmt die dunkelsten Geheimnisse des amerikanischen Imperiums verbargen. Als sie sie nicht öffnen konnten, hatte jemand – Dejan? Viktor? – die glänzende Idee, den Kasten einfach niederzubrennen. Wenn es keine Schüler gibt, wozu dann eine Schule? Vielleicht begriffen die Schüler es am Morgen, wenn sie den Aschehaufen sahen.
Doch am nächsten Tag hatte niemand irgendetwas begriffen, und die eigenen Polizisten schwärmten aus, um die Geschichtslehrer auf den Straßen einzusammeln und sie aus den Wohnungen zu holen. Einer war in der Botschaft
an Rauchvergiftung gestorben, aber den kannte Radovan nicht. Ein mit ihm festgenommener Bosnier nannte den Toten einen Märtyrer, aber Radovan, niedergedrückt von einem zentnerschweren Kater und bedrängt vom kalt gleißenden Morgenlicht, hatte jede Sicherheit verloren.
Und jetzt, am Sonntag nach der Wahl, war er immer noch hier in einer Gruppenzelle im Belgrader Bezirksgefängnis an der Baćvanska Ulica.
Ab und zu tauchten Polizisten auf, um diesen oder jenen Festgenommenen zum Verhör zu führen. Die Rückkehrer erzählten, dass man von ihnen wissen wollte, wer die Überfälle auf die kroatische und amerikanische Botschaft und die versuchten Überfälle auf die türkische und britische Botschaft organisiert hatte, aber der ausgeübte Druck hing davon ab, welchen Vernehmungsbeamten man erwischte. Manche interessierten sich gar nicht für diese Dinge und redeten nur über kleinere Vergehen wie die Verwüstung des McDonald’s und anderer Geschäfte am Terazije.
Bisher hatte ihm niemand auch nur eine Frage gestellt, und er wollte nichts als raus. Der Gestank ging ihm auf die Nerven. Er hatte miterlebt, wie das Testosteron überkochte und Schlägereien ausbrachen. Skinheads hatten mehrere Messer eingeschmuggelt, und zwei Bosnier hatten sich schon Schnittwunden eingehandelt. Viel wichtiger war jedoch, dass er morgen in der österreichischen Botschaft erwartet wurde, obwohl er doch, wenn es so weiterging, nicht vor Mitte der Woche mit seinem Verhör rechnen konnte. Als einer der Skinheads grinsend in die Zelle zurückkam, winkte Radovan seinem Begleiter: »Bestellen Sie Pavle Ðorđević, dass Radovan Panić Informationen für ihn hat.«
Er hatte Pavle Ðorđević in dem ungeheizten Eingangsbereich gesehen, als er mit zehn anderen hineingeschleift und zu der Gruppe junger Männer geschubst wurde, die inzwischen auf rund zweihundert angewachsen war. Er kannte Pavle von der Oberschule, allerdings wäre es eine Übertreibung gewesen, ihn einen Freund zu nennen. Radovan hatte ihm einen Faustschlag ins Gesicht verpasst, als sie beide vierzehn waren, und die lange Nase des Polizisten hatte auf halbem Weg zum Mund immer noch einen leichten Knick. Aber es war der einzige Beamte, den er kannte.
Der Bulle tat, als hätte er Radovans Forderung überhört. Nachdem er verschwunden war, bedrängten ihn ein paar Bosnier: Wen wollte er hinhängen? Er ließ sich nicht beirren und erzählte ihnen, dass ein bekannter Gangster aus Novi Beograd sein Boss war. Das reichte, um sich Platz zum Atmen zu verschaffen.
Stunden später, gegen halb sieben, wurde er in ein Verhörzimmer gebracht, in dem Pavle saß. Er rauchte eine Marlboro und kratzte sich an der krummen Nase. Er ignorierte Radovans Versuche, alte Erinnerungen heraufzubeschwören, und steckte die Zigaretten ein, als Radovan danach greifen
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