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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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hatte er noch die unscharfen Familienfotos, den benommenen Vater, die schreiende Mutter und die kahlen Äste vor Augen, die zum Fundort ihrer Leiche in den französischen Alpen führten.
    Natürlich stumpfte die Wiederholung ab, und die Panik, die er beim ersten und zweiten Durchlauf empfunden hatte, war abgeklungen. Beim vierten (oder fünften?) Mal interessierte ihn schon mehr, ob er die genauen Phrasen und emotionalen Ausbrüche vorhersagen konnte. Ein Gedächtnisspiel, eine Zerstreuung.
    Zuerst schritt der Schnurrbart die Treppe herunter. Anscheinend war ihm kalt oder übel. Er hatte eine Flasche Weißwein in der Hand. Dann folgte ihm viel langsamer eine atemberaubend dicke Frau. Sie hielt sich am Holzgeländer fest und ließ sich alle Zeit der Welt, bis sie schließlich den Betonboden erreichte und sich nach allen Seiten umsah. Ihr Salz-und-Pfeffer-Haar, dicht und ungepflegt, war zu einer Pagenfrisur gestutzt. Als ihr Blick auf Milo fiel, setzte sie sich wieder in Bewegung und ließ sich breitbeinig und schwer atmend auf dem Sofa nieder. »Guten Abend, Mr. Weaver.« Sie brachte eine Art Lächeln zustande, das wie ein höhnisches Grinsen wirkte. Sie sprach mit starkem Akzent. »Willkommen in Deutschland.«
    Der Schnurrbart, der jetzt nicht mehr die Autorität im Zimmer war, machte sich daran, die Weinflasche zu öffnen. Dazu benutzte er das Schweizer Messer, mit dem Milos Fesseln aufgeschnitten worden waren.

    Die Frau wandte sich an den Kleiderschrank. »Heinrich, vielleicht möchte Mr. Weaver was zu trinken.«
    »Ich heiße Hall.« Milo ging davon aus, dass er es mit Frau Schwartz zu tun hatte.
    »Vielleicht möchte Mr. Hall was zu trinken.«
    Milo wies mit dem Kinn auf die Kaffeeflecken an seinem Hemd. »Danke, ich hatte schon genug, Ms. Schwartz.«
    »Da hat anscheinend jemand was verschüttet«, stellte sie fest. »Vielleicht können wir Ihre Hände losbinden, das macht es bestimmt leichter.«
    »Ja.« Der Schnurrbart schob den Korken zurück in die Flasche und löste eine Klinge aus dem Messer. Dann fing er an, das Klebeband durchzusägen.
    »Heinrich.« Sie deutete auf die Flasche. »Könnten Sie uns bitte zwei Gläser aus der Küche bringen?«
    Heinrich stapfte die Treppe hinauf.
    »Schneiden Sie ihn nicht, Oskar«, mahnte sie.
    Endlich hatte Milo einen Namen für den Schnurrbart.
    Eine Weile beobachtete ihn die Frau nur, während Oskar das Klebeband bearbeitete. Wieder setzte sie das künstliche Lächeln auf. »Mr. Weaver … nein, bitte bleiben wir doch bei diesem Namen. Ich bin Erika Schwartz, auch bei mir ist das der echte Name. Wissen Sie etwas über mich?«
    Nachdem er ihren Vornamen gehört hatte, erinnerte sich er sich an ein biografisches Fragment aus seiner Zeit in der Verwaltung. Eine antagonistische BND-Direktorin, die zur Freude der Company innerhalb des deutschen Geheimdienstes allmählich aufs Abstellgleis geschoben wurde. »Nein. Ich bin Versicherungsvertreter – arbeiten Sie auch in dieser Branche?«
    Sie legte die geschwollenen Hände zusammen wie zum Gebet. »Vielleicht klären wir erst einmal ein paar Punkte.
Milo Weaver, siebenunddreißig Jahre alt. Mitarbeiter der Central Intelligence Agency.« Sie hob die Hand, als Milo protestieren wollte. »Bis letztes Jahr waren Sie in der Verwaltung, und die Daten über Sie sind teilweise öffentlich. Daher wissen wir einiges über Sie. Sie haben eine Wohnung in Newark, New Jersey. Sie haben Frau und Tochter – Tina und Stephanie –, die in Brooklyn leben. Aber in letzter Zeit haben Sie sie kaum gesehen, weil Sie unter dem Namen Sebastian Hall durch Europa gereist sind. Mit einer Ausnahme im Dezember, als Sie unter Ihrem echten Namen nach Budapest gefahren sind.«
    Budapest? Dann begriff Milo. Sie hatte etwas Erfundenes untergemischt, um zu sehen, ob er es bestreiten und damit implizit zugeben würde, dass der Rest ihrer Ausführungen zutraf. Wirklich ein gekonntes Manöver. »Ich weiß nicht, wer dieser Typ sein soll, aber es stimmt, dass ich durch Europa gereist bin. So was nennt man einen Kundenstamm aufbauen, Frau Schwartz. Man macht es, wenn man Auslandsamerikanern eine Krankenversicherung verkaufen will.«
    »Natürlich. Und in Budapest waren Sie ein Journalist der Associated Press. Sie können das Blaue vom Himmel herunterlügen, Mr. Weaver, aber Tatsache ist, dass ich weiß, wer Sie sind. Wozu also die Ausflüchte? Sie können natürlich Zeit gewinnen, das ist immer möglich. Vielleicht geben Sie sich der Hoffnung hin, dass Sie so

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