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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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der Schnurrbart seinen ersten Fehler. Während ein dänischer Sprecher mit grimmiger Miene über Adrianas Ermordung schwadronierte, kam er leise die Treppe herab, ein zerknittertes Blatt in der Hand, das aus Milos Jacke stammte. Es war keine Quittung. Heinrich drückte auf Pause.

    »Entschuldigen Sie.« Er faltete das Blatt auseinander. Hotelbriefpapier. »Ich bin nur neugierig – wer hat das geschrieben ?«
    Ohne lügen zu müssen, antwortete Milo: »Hab ich noch nie gesehen.«
    Heinrichs offene Hand knallte gegen Milos Gesicht.
    Er schnaufte mühsam. »Das ist die Wahrheit.«
    »Ich weiß.« Der Mann trat heran und hielt ihm das Blatt hin.
    Die Welt war so verschwommen, dass er nichts lesen konnte. »Näher bitte.«
    Der Schnurrbart tat ihm den Gefallen, und jetzt erkannte er, dass es aus dem Cavendish Hotel in London stammte. Unter dem Namen stand in schwungvollen Buchstaben:
    Tourismus ist was für Liebhaber –
wie Virginia
Nicht schmollen, sondern schmunzeln, Mann.
    Darunter war ein Smiley gemalt.
    Milo musste unwillkürlich lachen. James Einner hatte einfach einen wunderbar idiotischen Humor.
    »Also?« Der Schnurrbart wartete.
    »Keine Ahnung, ehrlich. Aber es ist irgendwie nett, finden Sie nicht?«
    Heinrich schlug ihn erneut, aber er spürte es kaum.
    »Von wem stammt es?«
    »Wahrscheinlich von einem geheimen Bewunderer.«

12
    Wie immer besuchte sie Herrn al-Akirs Laden, um ihren Riesling und das Snickers zu kaufen. Gestern Abend war ihr eine Veränderung in seinem Benehmen aufgefallen, aber erst nach kurzer Überlegung wurde ihr klar, dass das die Folge der Unregelmäßigkeit von letztem Freitag war. Der Trottel, der sie abholen sollte, hatte sie als Frau Direktor angesprochen. Das war die einzige Erklärung für den neugierigen Blick, der sofort weghuschte, als sie sich umdrehte, um ihn zu erwidern. Sie legte zehn fünfundsechzig auf den Tresen und sah zu, wie er den Betrag eintippte. »Herr al-Akir, hat Ihnen der junge Mann letzte Woche die fünf Cent gegeben?«
    Er blinzelte dreimal, ehe er nickte. »Ja. Das ist beglichen. « Er reichte ihr die Quittung.
    »Stimmt was nicht?«
    Er schüttelte eifrig den Kopf. »Nein, nein. Alles in Ordnung.«
    »Vielleicht möchten Sie mir eine Frage stellen.«
    Er schien völlig fassungslos über den Vorschlag. »Nein, keine Fragen.«
    Sie rang sich ein Lächeln ab, obwohl sie die Wirkung ihres Lächelns auf Fremde kannte. »Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend.«
    Im Auto verscheuchte sie jeden Gedanken an Herrn al-Akir und konzentrierte sich auf die Straße. Sie hatte
damit gerechnet, dass ein Besucher aus dem ersten Stock auftauchte – nicht Wertmüller persönlich, aber vielleicht ein Bote – und sich in ihrer Gegenwart wunderte, weil Dieter Reich sie weiter im Fall Stanescu einsetzte. Aber niemand sagte ein Wort zu ihr; irgendwie hatte sie sogar das angenehme Gefühl, dass der erste Stock völlig verlassen war.
    Seit dem Anruf um drei Uhr hatte sie kein bedeutsames Wort mehr mit Oskar gewechselt, aber sie hatte ihn im Büro gesehen. Er kam nach vier an und setzte sich mit erschöpftem Gesicht an den Computer, wo er an belanglosen Berichten arbeitete und Aufträge für Erika erledigte. Sie hatten vereinbart, im Büro nicht über Milo Weaver zu sprechen, selbst wenn sie es im Prinzip für sicher hielten. Aus dem gleichen Grund blieb er auch noch kurz, als sie um halb acht aufbrach. Während Erika bei Herrn al-Akir vorbeischaute, fuhr Oskar mit seinem Wagen in den Perlacher Forst und wartete, dass sie ihn abholte.
    Er hatte seinen VW außer Sichtweite abgestellt und wirkte durchfroren, als sie ankam. Nachdem er eingestiegen war, drehte er die Heizung auf, bis sie laut blies. »Sie haben sich Zeit gelassen.«
    »Ich musste meinen Riesling holen.«
    »Ich glaube, Sie haben ein Alkoholproblem, Erika.«
    »Was macht er?«
    »Schaut sich Videos an.«
    »Nichts gebrochen, hoffe ich.« Ihr war nicht entgangen, dass es in Oskar brodelte, seit er von Adriana Stanescus Vergangenheit erfahren hatte. Er suchte nach einem Schuldigen, und da kam ihm Milo Weaver gerade recht.
    »Noch nicht. Aber wir haben ja Zeit.«

     
    Ihm war klar, dass etwas im Gange war, als Heinrich nach Empfang eines Anrufs aufstand und den Fernseher ausschaltete. Geschätzte vier Stunden lang hatte Milo Adriana Stanescus vielsprachiger Geschichte zugesehen und gelauscht. Vier Stunden gefesselt in einem Sessel vor einer Videoendlosschleife. Selbst jetzt, als die Mattscheibe schwarz war,

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