Laubmann 1 - Der zerrissene Rosenkranz
vernehmbar, obwohl Laubmann nicht immer unterscheiden konnte, wer von den beiden der Urheber war. Einmal tönte es «Mörder!» durch den Innenhof. Auch Worte wie «Unverschämtheit» und «Idiot» oder «Idiotie» waren nicht zu überhören. Das konnte für die Kontrahenten peinlich werden.
Und richtig: Auf der Philipp entgegengesetzten Seite des Innenhofs hatten sich an den offenen Fenstern eines Hörsaals Gruppen von Studenten gebildet, die auf den Beginn einer Vorlesung warteten – wahrscheinlich sogar auf Konrad – und nun feixend die Wartezeit verkürzten. Diese plumpe Neugier fand Laubmann allerdings unstatthaft. Seine eigene Neugier hingegen war einem höheren Wert, nämlich der Klärung eines Mordfalls, dienlich.
An jeder Universität gibt es verdeckten Streit unter dem Lehrpersonal. Jeder empfindet sich als eine Art selbstherrliche Institution, eine Autorität, und fühlt sich oft schon bei der kleinsten Kleinigkeit angegriffen. Daß Neid und Eifersucht zu den üblichen Vorgängen innerhalb der Fakultäten gehören, das war Dr. Laubmann so bewußt wie den Professoren und den meisten Studenten. Es kam bloß selten öffentlich zum Ausdruck.
Und diese beiden Herren da unten mochten gar nicht mehr aufhören. Wie um dies zu bestätigen, wurde die Auseinandersetzung noch intensiver und ungezügelter, und vor allem stimmgewaltiger. Sogar der Name «Franziska» und Ausdrücke wie «Halt doch den Mund!» erfüllten den Hof. An einem der Fenster begannen die Studenten gar zu applaudieren, nachdem es eine besonders deftige Anrede gesetzt hatte. Die Streithähne fuchtelten manchmal so wild herum, daß man das Übergehen des verbalen Streitens in Tätlichkeiten befürchten mußte.
Im Verlauf des sich steigernden Ereignisses gewahrte Laubmann, wie sich seitlich die Tür der Hausmeisterwohnung öffnete. Kurz darauf trat Wendelin Kappas bedächtig heraus. Er war ja schon älter und von der Pensionierung nicht mehr weit entfernt. Ein kleiner, stämmiger Mann mit knolligen, etwas aufgeschwemmten Gesichtszügen und schütterem aschgrauem Haar. Selbst von weitem konnte man ihn an seinem taubenblauen Arbeitskittel erkennen. Er trat also heraus, hantierte freilich eine Weile unschlüssig an seiner Tür herum, als sei er von dem Hofereignis schamvoll berührt. Dann aber ging er vorsichtig, jedoch eindeutig, auf die Streitenden zu. Die Studenten, die kurz zuvor mit Zurufen und Lachen die Situation angeheizt hatten, waren jetzt ruhig. Alle waren gespannt, welche Wendung die Dinge nehmen würden. Denn der Professor und der Bibliotheksdirektor ließen von ihrem Streit keineswegs ab.
Erst als der Hausmeister neben sie trat, registrierten sie ihn, verstummten und achteten nun auf das, was er mitzuteilen hatte, leise und auf die umliegenden Fenster deutend. Wie Laubmann anderntags erfuhr, hatte auch der Dekan von seinem Fenster aus den Streitfall bemerkt und den Hausmeister übers Haustelefon gebeten, in seinem Auftrag der Peinlichkeit ein Ende zu bereiten. Jedenfalls sausten Konrad und Prestl wütend in verschiedene Richtungen davon, obwohl der Hausmeister noch mit ihnen redete. In Philipp überschlugen sich die Gedanken.Wenn einer von beiden der Täter war, also schuld am Tod der Franziska Ruhland – würde er sich so in der Öffentlichkeit präsentieren? – Vielleicht war's einfach unvermeidlich gewesen. Oder: Der Täter war eiskalt und ging in der Öffentlichkeit «mit dem Kopf durch die Wand», um den Verdacht um so mehr von sich abzulenken, weil alle annahmen, ein Täter würde sich unauffällig verhalten.
Schließlich eine letzte Möglichkeit, von der Laubmann für einen Moment richtiggehend fasziniert war:Warum sollten nicht beide zusammen den Mord geplant und ausgeführt haben? Und die beiden haben hier gemeinsam eine ganz skrupellose Show abgezogen, um gar keinen anderen Gedanken aufkommen zu lassen als den an einen Einzeltäter! Ein wahres Komplott wäre das! Aber das glaubte Philipp selbst nicht so recht, wenn er auch aus Prinzip alle Möglichkeiten durchspielte.
Und endlich kam es Philipp Laubmann wieder in den Sinn, was er noch vorhatte: Er wollte ein Zeitschema entwerfen, alle Beteiligten des Falls im exakten zeitlichen Vergleich nebeneinander auflisten. Der Abend des 22. Oktober hatte sie alle nachhaltig beeindruckt, denn sie konnten sich sehr gut daran erinnern. Daß er selber an jenem Abend an keinem der relevanten Orte zugegen gewesen war, wurmte ihn nachträglich. Doch dafür mischte er jetzt kräftig mit
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