Lauf des Lebens
Stunden mit seinem Blick durchbohrt hatte. Am liebsten hätte sie ihn in die Arme genommen und getröstet, wie sie es mit ihren kleinen Patienten machte. Blake war zwar ein Mann, aber in gewisser Weise doch ebenso verloren und verängstigt wie ein Kind. Verwirrt von dem ungewohnten Bedürfnis, ihn zu berühren, faltete Dione ihre Hände im Schoß.
„Was ist deine Schwäche?“, fragte er. „Du sagtest, jeder Mensch hätte eine. Erzähl mir, was dich quält.“
Die Frage kam so unerwartet, dass Dione ihren aufwallenden Schmerz nicht zurückdrängen konnte und am ganzen Körper zu zittern begann. Blakes Schwachstelle sprang jedem sofort ins Auge: die zerschundenen Beine. Auch ihre Verletzung wäre beinahe tödlich gewesen, genau wie seine, doch äußerlich war sie nicht zu sehen. Dione hatte eine pechschwarze Zeit durchgemacht. Und auch für sie schien der Tod damals der einfachste Ausweg – ein weiches Kissen, auf den sie ihren geschundenen Geist und missbrauchten Körper betten konnte. Aber tief in ihrem Inneren hatte ein heller, hartnäckiger Lebensfunke sie vor der Versuchung bewahrt, diesen allerletzten Schritt zu gehen. Sie hatte gekämpft und gelebt und ihre Wunden geleckt, so gut sie konnte.
„Was ist los?“ Seine Frage war ein leichtes Sticheln. „Du stöberst in den Geheimnissen anderer Leute herum, willst aber deine eigenen nicht verraten? Was sind deine Schwächen? Bist du Kleptomanin? Liebst du es, mit fremden Männern zu schlafen? Hinterziehst du Steuern?“
Dione zitterte noch immer, und ihre Hände krampften sich so fest ineinander, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie konnte es ihm nicht erzählen, nicht alles, obwohl er in gewisser Weise ein Recht hatte, zumindest ansatzweise zu erfahren, was sie so schmerzte, denn sie selbst war schon so oft Zeugin seiner Qualen geworden, dass sie seine Sehnsüchte, seine Verzweiflung und Gedanken ziemlich genau kannte. Noch nie hatte einer ihrer Patienten so etwas von ihr verlangt, aber Blake war kein gewöhnlicher Patient. Er wollte mehr als das Übliche wissen, genauso wie sie von ihm überdurchschnittliche Anstrengungen forderte. Wenn sie ihn jetzt zurückwies, das war ihr intuitiv klar, dann würde er jede weitere Kooperation mit ihr einstellen. Seine Genesung hing von ihr ab, von dem Vertrauen, das sie zwischen ihnen aufbaute.
Dione bebte jetzt geradezu, Schauder liefen ihr über den Körper. Sie wusste, dass sich ihr Zittern auf das Bett übertrug und er es fühlen konnte. Mit gerunzelter Stirn und unsicherer Stimme hakte er nach: „Dione? Hör mal, ich …“
„Ich bin ein uneheliches Kind“, stieß sie mit gepresster, gequälter Stimme hervor. Sie spürte, wie sich ein Schweißfilm auf ihre Haut legte. Als sie tief Luft holte, entfuhr ihr ein Schluchzen. Dann brachte sie mit größter Anstrengung ihren Körper zur Ruhe.„Ich kenne meinen Vater nicht. Meine Mutter kannte nicht einmal seinen Namen. Sie war betrunken, er war zur Stelle – und hopp, ist es passiert. Sie war schwanger. Mit mir. Aber sie wollte mich nicht. Gefüttert und versorgt hat sie mich dann wohl trotzdem irgendwie; immerhin lebe ich und kann dir heute davon erzählen. Aber sie hat mich nie in den Arm genommen, hat mir nie einen Kuss gegeben und mir nie gesagt, dass sie mich lieb hat. Dagegen hat sie keine Gelegenheit verpasst, mir zu zeigen, dass sie mich hasst, dass sie es hasst, für mich zu sorgen, dass sie es sogar hasst, mich zu sehen. Hätte sie nicht einen Sozialhilfescheck für mich bekommen, hätte sie mich wahrscheinlich in die nächste Mülltonne geworfen.“
„Das weißt du doch gar nicht!“, schoss er dazwischen. Er hatte sich auf einen Ellbogen gestützt. Sie merkte, wie die harsche Bitterkeit ihrer Worte ihn aus der Fassung brachte. Aber jetzt, wo sie einmal ins Reden gekommen war, konnte sie nicht mehr aufhören. Und wenn es sie umbrachte – das Gift musste jetzt raus.
„Sie hat es mir erzählt“, sagte sie tonlos. „Du weißt, wie Kinder sind. Ich habe auf alle erdenkliche Weise versucht, ihre Liebe zu erkämpfen. Ich kann nicht viel älter als drei Jahre alt gewesen sein, aber ich erinnere mich, wie ich erst auf Stühle und dann auf Schränke klettern konnte, um die Whiskeyflasche für sie herunterzuholen. Natürlich hat das alles nichts genützt. Ich habe gelernt, mein Weinen zu unterdrücken, denn sie schlug mich, wenn ich weinte. Wenn sie nicht zu Hause war und betrunken draußen herumstrich, habe ich mir mein Essen selbst beschafft.
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