Lauf des Lebens
Das mache ich jede Nacht. Heute bist du zum ersten Mal aufgewacht.“
„Nein, ich war schon vorher wach.“ Seine Stimme klang jetzt neugierig, und er bewegte seine Schultern unruhig hin und her. „Willst du etwa sagen, dass du jede Nacht zu mir hereinkommst und mich auf die Seite legst?“
„Du scheinst so besser zu schlafen“, war ihre einzige Antwort.
Er stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. „Am besten schlafe ich auf dem Bauch, oder zumindest war das früher so. Ich habe es seit zwei Jahren nicht mehr gemacht.“
Die ruhige Vertrautheit der Nacht und das Mondlicht im Zimmer gaben Dione das Gefühl, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt. Sie spürte Blakes tiefe Verzweiflung. Vielleicht fühlte er ja in diesem Moment auch eine gewisse Nähe zu ihr und würde ihr im Schutz der Dunkelheit anvertrauen, was ihn quälte? Ohne zu zögern, setzte sie sich auf seine Bettkante und zog sich ihr Nachthemd bequem über die Beine.
„Blake, was ist los mit dir? Irgendetwas beschäftigt dich doch“, sagte sie sanft.
„Bingo“, murmelte er. „Hast du in deiner Ausbildung zur Superfrau auch Psychologiekurse belegt?“
Sie ignorierte den Hieb und legte ihm ihre Hand auf den Arm. „Erzähl es mir. Was auch immer es ist, es stört unsere Therapie. Der Trainingsraum steht für dich bereit, aber ich merke, dass du noch nicht bereit dafür bist.“
„Das hätte ich dir gleich sagen können. Die ganze Sache ist doch eine einzige Zeitverschwendung“, sagte er. Sie konnte den Überdruss in seinen Worten fast körperlich spüren. Es war, als hinge ihm die Müdigkeit wie ein Mühlstein um den Hals. „Du kannst mich noch so sehr mit Vitaminen vollstopfen und meinen Kreislauf auf Trab bringen, aber kannst du mir auch versprechen, dass ich genau so werde, wie ich früher war? Verstehst du das nicht? Ich möchte nicht einfach nur eine Verbesserung oder einen Kompromiss. Wenn ich nicht zu hundert Prozent das werde, was ich vorher war, dann interessiert mich das ganze Unterfangen nicht.“
Sie schwieg. Nein, wenn sie ehrlich war, konnte sie ihm nicht versprechen, dass er nicht irgendeine dauerhafte Beeinträchtigung, ein Hinken oder anderes Handicap, behalten würde. Ihrer Erfahrung nach konnten die Selbstheilungskräfte des menschlichen Körpers wahre Wunder vollbringen, aber trotzdem hinterließen die erlittenen Verletzungen meistens irgendwelche schmerzhaften Spuren im Gewebe.
„Wäre es tatsächlich so schlimm für dich, mit einem kleinen Hinken zu laufen?“, fragte sie schließlich. „Ich bin im Übrigen auch nicht so, wie ich gerne wäre. Jeder hat seine Schwächen, aber nicht jeder gibt sich deswegen so schnell auf und lässt sich gehen. Was wäre, wenn, sagen wir, Serena an deiner Stelle wäre? Würdest du mit ansehen wollen, wie sie einfach nur herumliegt und dahinvegetiert? Würdest du dir nicht wünschen, dass sie kämpft und versucht, das Handicap so gut wie möglich in den Griff zu bekommen?“
Er bedeckte seine Augen mit dem Unterarm.„Du diskutierst unfair. Ja, natürlich würde ich wollen, dass Serena kämpft. Aber ich bin nicht Serena, mein Leben ist nicht ihr Leben. Vor meinem Unfall war ich mir gar nicht bewusst, wie wichtig mir Lebensqualität wirklich ist. Ich habe wild und gefährlich gelebt, mein Gott, ich war lebendig! Ich war niemals ein Mensch, der morgens mit seiner Thermoskanne in ein Büro schlendert. Ich würde lieber sterben, als so ein Leben zu führen, obwohl ich weiß, dass Millionen von Menschen damit sehr glücklich sind. Für sie ist das okay, für mich nicht.“
„Würde eine Gehbehinderung dich davon abhalten, dein früheres Leben zu führen?“, hakte sie nach. „Du könntest immer noch fallschirmspringen, bergsteigen oder deine eigenen Flugzeuge fliegen. Ist dir dein Gang so wichtig, dass du deswegen sterben würdest?“
„Warum fragst du das immer wieder?“, fragte er scharf, nahm den Arm von seinem Gesicht und blickte sie an. „Ich erinnere mich nicht daran, mich im Rollstuhl die Treppen hinabgestürzt zu haben, wenn du das meinst.“
„Nein, aber du bringst dich genauso effektiv auf andere Weise um. Du lässt deinen Körper an Vernachlässigung sterben. Richard war verzweifelt, als er mich unten in Florida aufsuchte. Er prognostizierte, dass du kein weiteres Jahr leben würdest, wenn du so weitermachst wie bisher. Und nachdem ich dich gesehen habe, kann ich ihm nur zustimmen.“
Blake lag schweigend da und starrte an die Decke, die er schon unzählige
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