Lauf des Lebens
das tiefe Blau des offenen Ozeans. Zum Tiefseefischen fuhr er also auch. Gab es eigentlich irgendetwas, was dieser Mann nicht konnte? Ja, etwas gibt es, dachte sie: Er kann nicht mehr laufen.
Eigentlich sollte sie den Job schon allein deswegen ablehnen, um Richard Dylan zu demonstrieren, dass sie nicht auf eine so durchsichtige Weise manipulierbar war. Aber als sie noch einmal in das Gesicht auf dem Foto blickte, wusste sie, dass sie ganz in Richard Dylans Sinne zusagen würde. Und das beunruhigte sie. Sie hatte sich schon seit so langer Zeit für keinen Mann mehr interessiert, dass ihre Reaktion auf dieses Foto sie alarmierte.
Sie fuhr die Konturen des Gesichts mit den Fingerspitzen nach und fragte sich wehmütig, wie ihr Leben wohl aussähe, wenn sie sich wie eine normale Frau in einen Mann verlieben könnte und von diesem geliebt würde. Aber ihre kurze, katastrophale Ehe hatte ihr diese Möglichkeit genommen. Sie hatte ihre Lektion auf bittere Weise gelernt und nicht vergessen: Ein liebender Ehemann und Kinder waren ihr nicht vergönnt. Das Vakuum, das die fehlende Liebe in ihrem Leben hinterließ, musste sie durch Befriedigungen kompensieren, die ihre Arbeit ihr verschaffte – eine Arbeit, mit der sie anderen Menschen helfen konnte. Zugegeben: Sie musterte Blake Remingtons Foto mit Bewunderung, jedoch ohne die Schwärmerei, in die andere Frauen beim Anblick von so viel maskuliner Schönheit verfallen wären. Dione empfand Schwärmereien als reine Zeitverschwendung, denn sie wusste nur zu gut, dass sie niemals in der Lage wäre, einen Mann wie Blake Remington für sich zu interessieren. Ihr Exmann, Scott Hayes, hatte ihr auf schmerzhafte und demütigende Weise gezeigt, wie verrückt und unmöglich es war, einen Mann halten zu wollen, wenn man ihn nicht auch befriedigen konnte.
Nie wieder. Das hatte sie sich geschworen, als sie Scott damals verlassen hatte. Und diesen Schwur würde sie jederzeit erneuern. Nie wieder wollte sie einem Mann die Gelegenheit geben, sie zu verletzen.
Plötzlich strich ihr eine salzige Brise über die Wangen. Sie blickte auf und bemerkte erstaunt, dass die Sonne verschwunden war. Während sie ihren düsteren Erinnerungen nachhing, hatte sie offenbar die ganze Zeit mit leerem Blick auf das Foto gestarrt und die Welt um sich herum vergessen. Dione sprang auf, ging nach drinnen und knipste eine Stehlampe an, die das kühle, sommerliche Dekor des Strandhauses sofort in warmes Licht tauchte. Dann ließ sie sich in einen dick gepolsterten Sessel fallen, lehnte ihren Kopf zurück und begann, in groben Zügen ein Therapieprogramm zu entwerfen. Die Detailplanung würde sie erst machen, wenn sie Mr. Remington getroffen und seinen tatsächlichen Zustand beurteilt hatte. Sie schmunzelte in Erwartung dessen, was da auf sie zukommen würde: Sie liebte Herausforderungen über alles und hatte das Gefühl, dass Mr. Remington ihr jeden Zentimeter Boden streitig machen würde. Sie würde auf der Hut sein und das Zepter in der Hand behalten müssen. Sie musste seine Hilflosigkeit als Druckmittel gegen ihn einsetzen, musste ihn mit seiner eigenen Hilflosigkeit so zur Weißglut bringen, dass er bereit wäre, durch die Hölle zu gehen, nur um weniger von ihr abhängig zu sein und sie nicht mehr sehen zu müssen. Und dann wäre er optimal vorbereitet für das, was ihn erwartete, denn eine Therapie war tatsächlich ein Gang durch die Hölle – und zwar kein Spaziergang.
Dione hatte schon viele schwierige Patienten gehabt, Patienten, die so deprimiert waren und so sehr mit ihrer Behinderung haderten, dass sie sich völlig von der Welt abgekapselt hatten. Sie schätzte, dass es sich bei Blake Remington ebenso verhielt – so aktiv, intensiv und draufgängerisch, wie er vorher gelebt hatte. Sicher war ihm sein Leben völlig egal – und alles andere sowieso.
In der Nacht schlief Dione ausgezeichnet, tief und traumlos, und stand noch vor der Dämmerung auf, um am Strand zu joggen, wie jeden Morgen. Sie war keine verbissene Läuferin, die die Meilen zählte und versuchte, sich ständig zu steigern. Sie joggte zum reinen Vergnügen, so lange, bis sie müde war. Danach schlenderte sie noch eine Weile die Brandung entlang und ließ das Wasser über ihre nackten Füße schwappen. Als sie an ihrem Strandhäuschen ankam, duschte und ihre Sachen packte, durchstachen die ersten gleißenden Sonnenstrahlen die Morgenluft. Dione hatte ihre Entscheidung getroffen, deshalb wollte sie keine weitere Zeit verschwenden. Wenn
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