Lauf des Lebens
Verletzungen“, bat Dione.
Richard Dylan stand auf. „Ich mache Ihnen einen besseren Vorschlag. Ich habe die Krankenakte mit allen Röntgenbildern in meinem Wagen. Dr. Norwood hat mir vorgeschlagen, alles gleich mitzubringen.“
„Was für ein gerissener Hund“, murmelte sie, als Mr. Dylan um die Ecke der Terrasse verschwand. Tobias Norwood wusste genau, wie er sie neugierig machen und ihr einen neuen Fall servieren musste. Und sein Kalkül war auch diesmal aufgegangen: Ihr Interesse war bereits geweckt. Nach Einsicht der Röntgenbilder und der Krankenakte würde sie eine Entscheidung treffen. Wenn sie zu dem Schluss kam, dass sie Blake Remington nicht helfen konnte, dann würde sie ihm die Strapazen einer Therapie ersparen.
In dem Moment kam Mr. Dylan mit einer dicken Pappmappe unter dem Arm zurück. Er reichte sie Dione und wartete gespannt ab. Doch anstatt hineinzuschauen, trommelte sie mit den Fingern auf den Pappdeckel.
„Lassen Sie mich die Unterlagen heute Abend durchsehen, Mr. Dylan“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich möchte meine Entscheidung nicht nach einem flüchtigen Blick in die Akte treffen. Ich gebe Ihnen morgen früh Bescheid.“
Ein Anflug von Ungeduld lag in seinem Blick, doch er hatte sich schnell wieder im Griff und nickte. „Vielen Dank, dass Sie die Sache überdenken, Miss Kelley.“
Als er gegangen war, blickte Dione lange auf die weite Bucht mit ihren türkis schimmernden Wellen, die sich weiß schäumend auf dem Strand brachen. Ein Glück, dass ihr Urlaub schon fast zu Ende war und sie knapp zwei Wochen äußerster Entspannung in Florida genossen hatte. Die langen Strandspaziergänge waren so ziemlich die größte Anstrengung gewesen. Das eine oder andere Mal hatte sie bereits an ihren nächsten Job gedacht, doch nun sah es so aus, als ob sich ihre Pläne komplett ändern würden.
Nach Öffnen des Umschlags hielt sie die Röntgenbilder nacheinander gegen das Sonnenlicht. Sie zuckte zusammen, als sie das Ausmaß des Schadens begutachtete, der einen ehemals gesunden, kräftigen Körper lahmgelegt hatte. Ein Wunder, dass Blake Remington das Unglück überhaupt überlebt hatte. Aber immerhin: Die Röntgenbilder, die nach jeder erfolgreichen Operation gemacht worden waren, zeigten Knochen, die weitaus besser verheilt waren, als es zu erwarten oder zu hoffen gewesen wäre. Gelenke waren zusammengeflickt worden, Nägel und Metallplatten hielten das Skelett stabil. Den neuesten Röntgenbildern widmete sie besondere Aufmerksamkeit. Der Chirurg musste ein Genie oder die Operation ein Wunder gewesen sein – vielleicht traf auch beides zu. Jedenfalls konnte sie keinen physischen Grund erkennen, warum Blake Remington nicht wieder laufen konnte, es sei denn, die Nerven waren komplett durchtrennt.
Als sie mit der Lektüre des ärztlichen Berichts begann, konzentrierte sie sich auf jedes noch so kleine Detail, bis sie genau verstanden hatte, welche Schäden auf welche Weise repariert worden waren. Dieser Mann würd e wieder laufen, dazu würde si e ihn bringen! Am Ende des Berichts wurde erwähnt, dass die mangelnde Kooperationsbereitschaft und die schwere Depression des Patienten einer weiteren Verbesserung des Gesamtzustands im Wege standen. Dione konnte den tief sitzenden Frust des Chirurgen beim Verfassen des Berichts fast körperlich spüren: Nach all der mühevollen Arbeit und dem unverhofften Erfolg der Technik hatte der Patient sich geweigert, mitzuhelfen.
Sie sammelte die einzelnen Dokumente zusammen und wollte sie gerade wieder in den Umschlag stecken, als sie merkte, dass sie ein kleines, kartonartiges Stück Papier übersehen hatte, das immer noch im Umschlag lag. Sie zog es heraus und drehte es um. Es war ein Foto.
Verblüfft blickte sie in ein Paar strahlend blauer Augen, Augen, die vor Lebensfreude nur so sprühten. Richard Dylan war ein ebensolches Schlitzohr wie Tobias Norwood: Er hatte genau kalkuliert, dass eine Frau dem Charme des dynamischen, vitalen Mannes auf dem Foto kaum widerstehen konnte. Sie wusste, dass es ein Foto von Blake Remington vor seinem Unfall war. Er hatte strubbelige braune Haare und ein gebräuntes Gesicht mit einem verwegenen Grinsen, das ein verführerisches Grübchen in seiner linken Wange zum Vorschein kommen ließ. Er trug nichts außer einer Jeans-Shorts. Sein Körper war wohlgeformt und muskulös, und seine Beine waren lang und kräftig wie die eines Athleten. Er hielt einen ziemlich großen Speerfisch in Händen. Im Hintergrund sah man
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