Lauf, Jane, Lauf!
warten? Wenn seit ihrem letzten Zusammentreffen nur sechs Monate vergangen waren, dann hatte der Ausflug, von dem sie gesprochen hatte, im letzten Schuljahr stattgefunden. Aber das war ausgeschlossen, wenn Emily vor mehr als einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.
Es sei denn, Emily war gar nicht umgekommen. Es sei denn, Emily war noch am Leben.
Janes ganzer Körper zuckte vor Erregung. Sie fühlte, wie Michaels Hände ihre Taille fester umfaßten. Wenn aber Emily gar nicht umgekommen war, wenn sie irgendwo noch am Leben war, weshalb hatte Michael ihr dann erzählt, sie wäre tot? Wenn Emily am Leben war, so hieß das, daß alles, was Michael ihr erzählt hatte, gelogen war.
Es gab nur ein Mittel, die Wahrheit herauszufinden. »Michael«, flüsterte sie und entwand sich seiner Umarmung, »wenn wir aufstehen, möchte ich auf den Friedhof fahren.«
Der Friedhof war nicht weit, in jenem Teil Newtons gelegen, der Oak Hill hieß. Michael hatte protestiert, er sähe keinen Sinn darin, auf den Friedhof zu gehen, das würde sie zweifellos nur noch mehr aus dem Gleichgewicht bringen, aber sie war hart geblieben, und schließlich hatte er nachgegeben. Na, wenn schon, hatte seine Miene gesagt, es spielt im Grunde keine Rolle.
Doch, hatte sie stumm entgegnet, es spielt eine große Rolle. Es spielt eine entscheidende Rolle. Der Besuch auf dem Friedhof wird darüber entscheiden, ob ich mich lebendig begraben lasse
oder anfange, mich zu wehren, um dahinterzukommen, was hier vorgeht, und um meine Tochter wiederzubekommen.
Michael steuerte den Wagen durch das offene Tor des Mount Pleasant Friedhofs und hielt auf dem kleinen gekiesten Parkplatz an. Er schaltete den Motor aus und blieb einen Moment reglos sitzen. Jane, die spürte, daß er sie forschend ansah, senkte den Kopf und täuschte Müdigkeit vor. Keinesfalls durfte sie jetzt seinen Verdacht erregen, aber sie war im übrigen tatsächlich müde und hätte mühelos auf der Stelle einschlafen können.
»Bist du sicher, daß du dir das antun willst?« fragte er.
»Ich muß es tun«, antwortete sie wahrheitsgemäß.
»Okay. Wenn es dir zuviel wird, dann sag es mir. Dann kehren wir sofort wieder um.«
Er öffnete seine Tür und stieg aus. Dann kam er um den Wagen herum, um ihr herauszuhelfen, und führte sie, seinen Schritt ihrem schleppendem angleichend, auf den richtigen Weg. Wozu das alles? fragte sie sich plötzlich und mußte den Impuls niederringen, zum Wagen zurückzulaufen. Michael erfüllte bereitwillig ihren Wunsch; er hatte offensichtlich nichts zu verbergen. Worin also lag der Zweck dieser Übung? Anne Halloren-Gimblet legte eben ihre Worte nicht auf die Goldwaage, das war alles. Sechs Monate, das war schlicht und einfach eine Redewendung. Ebensogut hätte sie sechs Jahre sagen können.
»Es ist in der Richtung«, sagte Michael und wies über die geordneten Reihen von Grabsteinen hinweg, vor denen in halbmondförmigen Beeten bunte Sommerblumen blühten. Jane ging langsam zwischen den Reihen hindurch und las die fremden Namen, registrierte automatisch Geburts- und Todesdaten.
GELIEBTE FRAU; LIEBENDER VATER; IHN KENNEN HEISST IHN LIEBEN; GELIEBT VON ALLEN, DIE SIE KANNTEN; GELIEBTER SOHN, DER UNS ZU FRÜH GENOMMEN WURDE; ein schlichtes UNVERGESSEN.
Vor einem Grabstein aus rotem Granit blieb Michael stehen. »Hier ist es.«
Jane hielt unwillkürlich den Atem an. EVELYN LAWRENCE, lautete die Inschrift. LIEBEVOLLE FRAU, GELIEBTE MUTTER UND GROSSMUTTER, GEBOREN AM 16. MÄRZ 1926, GESTORBEN AM 12. JUNI 1989. IN UNSEREN HERZEN WIRST DU WEITERLEBEN.
Ihre Mutter war also wirklich tot. Sie kniete nieder und strich mit den Fingern über den gemeißelten Stein. Gestorben mit dreiundsechzig Jahren. Langsam zeichnete sie die tief eingegrabenen Buchstaben nach. Sie schloß die Augen und lehnte den Kopf an den Stein, der trotz der morgendlichen Hitze kühl war, und wünschte sich, ihre Mutter würde aus der Tiefe des Grabes die Arme emporstrecken und sie zu sich hinunterziehen, sie trösten und beruhigen und nie wieder loslassen.
GESTORBEN AM 12. JUNI 1989. Jane riß die Augen auf und starrte die Buchstaben an, um sich zu vergewissern, daß sie richtig gelesen hatte. Es war nicht der 12. Juni gewesen, der Todestag ihrer Mutter, an dem sie sich erinnerungslos mitten in Boston wiedergefunden hatte; es war der 18. gewesen, fast genau eine Woche später. Was hatte das zu bedeuten?
Michael hatte ihr erzählt, sie wäre nicht davon abzubringen gewesen, das
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