Lauf, Jane, Lauf!
Grab ihrer Mutter genau am ersten Todestag zu besuchen; sie wäre nicht einmal bereit gewesen, bis zum Wochenende zu warten, obwohl er sie da hätte begleiten können. Das konnte nur bedeuten, daß sie entweder eine ganze Woche früher verschwunden war, als Michael behauptete, oder daß er den tragischen Tod ihrer Mutter einfach als fruchtbare Grundlage für all seine anderen Lügen ausgenutzt hatte.
Beklommen drehte Jane den Kopf nach dem Grab zu ihrer Rechten und atmete auf, als sie den fremden Namen las: KAREN LANDELLA. GELIEBTE FRAU UND MUTTER, GROSSMUTTER UND UR-GROSSMUTTER. GEBOREN AM 17. FEBRUAR 1900, GESTORBEN AM 27. APRIL 1989. GELIEBT VON ALLEN, DIE SIE KANNTEN. Mit einem stummen Gebet wandte Jane den Kopf langsam nach links: WILLIAM BESTER, LIEBEVOLLER EHEMANN, GELIEBTER VATER, GROSSVA-TER
UND BRUDER. GEBOREN AM 22. JUNI 1921, GESTORBEN AM 5. JUNI 1989.
»Wo liegt Emily?« fragte sie, kaum fähig zu sprechen.
Michael schwieg. Er half ihr auf, wandte sich dann ab und schritt rasch zwischen den Reihen schweigender Gräber hindurch. Jane folgte ihm widerstrebend, wagte nicht, nach rechts oder links zu sehen, voller Angst, sie könnte auf einem dieser kalten stummen Steine den Namen ihrer Tochter entdecken. War es möglich, daß ihre finsteren Vermutungen nur Wahnvorstellungen waren? Daß Emily wirklich hier auf diesem Friedhof lag?
»Michael?« rief sie. Sie blieb stehen und lehnte sich mit zitternden Knien an ein hohes graues Grabmal. Ihr Blick vollendete die Frage: Wo liegt sie? Wie weit müssen wir noch gehen?
»Emily ist nicht hier begraben«, sagte er nach einer langen Pause. Jane mußte sich mit beiden Händen an dem Grabmal festhalten.
»Sie ist nicht hier?«
»Sie wurde eingeäschert.«
»Eingeäschert?«
»Du konntest die Vorstellung, sie in die Erde zu legen, nicht ertragen«, erklärte er. Seine Stimme brach, und er konnte sekundenlang nicht weitersprechen. »Du wolltest auf keinen Fall eine Erdbestattung. Deshalb ließen wir sie einäschern und verstreuten ihre Asche im Hafen von Woods Hole.«
»Woods Hole?«
»Da steht das Sommerhaus meiner Eltern.« Er blickte in die Sonne, dann hinunter zu seinen Füßen. »Emily hat die Gegend dort geliebt.«
Jane leistete keinen Widerstand, als Michael sie in die Arme nahm. Sie fühlte den ruhigen Schlag seines Herzens und fragte sich, ob er spürte, wie erregt das ihre klopfte. Sagte er die Wahrheit? Konnte ein Mensch so leicht, so skrupellos lügen? Konnte
er sich so gut verstellen? Was war das für ein Ungeheuer, von dem sie sich da in den Armen halten ließ.
Sie erinnerte sich an den Alptraum in ihrer ersten Nacht zu Hause: Sie und Michael am Rand einer weiten Wiese voller Giftschlangen. Als sie bei ihm Hilfe gesucht hatte, hatte an seiner Stelle eine riesige Kobra gewartet. Sie fröstelte, und Michael zog sie fester an sich.
Es überlief sie eiskalt.
»Du solltest dich jetzt ein Weilchen hinlegen«, meinte er, als er ihr die Treppe hinauf half.
»Ist es schon Zeit für meine Tabletten?« fragte Jane. Sie setzte sich auf der Bettkante nieder.
Michael sah auf die Uhr. »Noch eine halbe Stunde. Warum?«
»Ich würde sie gern jetzt schon nehmen. Mir ist hundeelend, und ich habe das Gefühl, daß ich sonst nicht schlafen kann.«
Er neigte sich zu ihr hinunter und küßte sie auf die Stirn. »Eine halbe Stunde hin oder her, das spielt sicher keine Rolle.«
Er zog sich das von der Hitze schweißfeuchte Hemd über den Kopf und warf es auf dem Weg in sein Arbeitszimmer in den Wäschekorb. Jane blickte ihm nach, dann begann sie zu überlegen. Sie brauchte einen Plan, und sie mußte schnell handeln. Sie hatte nicht viel Zeit. Denk nach, befahl sie ihrem wirren Hirn. Was willst du tun?
Sie hörte, wie Michael drüben in seiner Arzttasche kramte. Als erstes mußte sie sich mit Anne Halloren-Gimblet in Verbindung setzen, das war klar. Sie sah zu dem weißen Telefon hinüber, das auf dem Nachttisch neben dem Bett stand. Irgendwann im Lauf der letzten Wochen hatte Michael sich sicher genug gefühlt, es wieder an seinen Platz zu stellen. Und sie mußte darauf achten, daß er sich auch weiterhin sicher fühlte. Sie durfte nichts tun, was seinen Verdacht erregen könnte. Der Besuch auf dem Friedhof war riskant genug gewesen. Aber sie hatte ihre Rolle
auf der Heimfahrt gut gespielt. Sie hatte so getan, als wäre ihr die Diskrepanz der Daten überhaupt nicht aufgefallen, hatte nur das schreckliche Schicksal ihrer Tochter beklagt, an den richtigen
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