Lauf, Jane, Lauf!
Frau ohne Erinnerung. Nächste Woche sollte der Ring fertig sein. Aber da würde sie keine Erinnerung mehr brauchen. Da würde sie schon selbst in die Erinnerung eingegangen sein. In Memoriam Jane Whittaker.
Sie blickte auf, als sie spürte, daß am Fuß der Treppe jemand stand und sie anstarrte.
Es war dieselbe Frau, die ihr auf der Straße begegnet war und sie mit so unsicherem Blick angesehen hatte, als sie an ihr vorübergegangen war.
»Entschuldigen Sie«, sagte die Frau und stieg ein paar Stufen höher, ehe sie erneut stehen blieb. »Sind Sie nicht Mrs. Whittaker? Emilys Mutter?«
Bei dem Namen schrie Jane leise auf.
»Oh, entschuldigen Sie«, wiederholte die Frau, »ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich dachte vorhin schon, daß ich Sie kenne, aber ich war mir nicht sicher. Sie sehen ein bißchen anders aus. Sind Sie Mrs. Whittaker?«
Jane nickte stumm.
»Ich bin Anne Halloren-Gimblet«, sagte die Frau, und Jane versuchte, eine Verbindung zu dem Namen herzustellen. »Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht an mich, aber unsere Töchter waren in derselben Klasse. Ich war auf dem Ausflug mit, als Sie diesem unverschämten alten Kerl Ihre Handtasche auf den Kopf donnerten.«
Halloren-Gimblet, wiederholte Jane stumm und fragte sich, wie Leute zu solchen Namen kamen.
»Ich hatte immer vor, Sie anzurufen und Ihnen zu sagen, wie sehr ich Ihre Courage bewundere. Ich hatte damals ein ganz schlechtes Gewissen. Ich stand genau wie alle anderen nur untätig dabei, während dieser Mensch unsere Kinder herumstieß, und hatte nicht den Mut, etwas zu tun. Sie waren die einzige, die sich das nicht gefallen ließ. Und dann dankten wir anderen Ihnen nicht einmal. Ich wollte Sie anrufen, aber irgendwie kam immer etwas dazwischen. Sie kennen das ja sicher - man nimmt sich etwas vor, aber wenn man es nicht gleich tut, wird nie mehr was daraus.« Sie hielt inne, als warte sie auf Janes Absolution.
Aber Jane sagte nichts. Halloren-Gimblet, dachte sie.
»Und darum«, fuhr die Frau fort und streckte sich, um Jane die schlaffe Hand zu schütteln, »möchte ich Ihnen wenigstens jetzt sagen, daß ich Sie großartig fand. Wenn so etwas noch einmal vorkommen sollte, warte ich nicht wieder sechs Monate, ehe ich mich melde.«
Sie ließ Janes Hand los und stieg rückwärts die wenigen Stufen zur Straße hinunter. »Auf Wiedersehen«, sagte sie, blieb noch einen Moment unschlüssig stehen und ging, als Michael oben aus dem Laden trat.
»Wer war das?« fragte er.
»Ach, irgendeine Frau mit einem komischen Namen, die meinte, mich zu kennen«, antwortete Jane matt.
»Und - kannte sie dich?«
Jane zuckte nur mit den Achseln. Michael half ihr auf und führte sie die Treppe zur Straße hinunter. Eine Bemerkung, die die Frau gemacht hatte, geisterte durch ihren Kopf, aber sie wußte, es würde sie ihre ganze Konzentration kosten, sich an das Gespräch zu erinnern, und sie war viel zu müde. Und was machte es schon für einen Unterschied? Sie konzentrierte sich statt dessen darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, während der Name der Frau bei jedem Schritt in ihrem Kopf widerhallte wie das rhythmische Geräusch eines langsam fahrenden Zugs. Anne
Halloren-Gimblet, ratterte es. Anne Halloren-Gimblet. Anne Halloren-Gimblet.
Annehallorengimbletannehallorengimbletannehallorengimblet.
24
Jane fuhr aus einem Traum hoch, in dem sie Emily durch ein endloses Labyrinth grüner Hecken nachgejagt war. Michael, der neben ihr lag, seufzte, aber er erwachte nicht. Jane legte ihren Kopf wieder auf das Kissen und wartete auf die Wiederkehr des Schlafs, das vertraute Gefühl, in weiche Tiefen zu sinken.
Plötzlich befand sie sich in einem großen Kaufhaus. Emily war bei ihr. Zusammen gingen sie zu einer Verkaufstheke. Jane trug eine Wäschetüte aus Plastik mit einem Kleid, das sie zurückgeben wollte. »Dieses Kleid hat Flecken«, teilte sie der Verkäuferin mit, die eine rosarote Schleife im flammend roten Haar trug.
»Blutflecken nehmen wir nicht zurück«, sagte die junge Frau und rieb den blauen Stoff zwischen den Fingern.»Außerdem haben Sie das Kleid schon vor sechs Monaten gekauft.«
»Aber es hat doch Garantie auf Lebenszeit.«
»Es gibt überhaupt keine Garantie.«
Jane sah sich suchend nach ihrer Tochter um und entdeckte, daß sie verschwunden war. »Emily!« rief sie laut. »Wo bist du?«
Und plötzlich stand sie vor einem offenen Grab und starrte durch die Dunkelheit zu Emily hinunter. Das Kind hockte angstgelähmt in der
Weitere Kostenlose Bücher