Lauf, Jane, Lauf!
noch mal!« Jane schlug mit beiden Fäusten auf das Steuerrad, und ihre wütenden Schreie hallten im Inneren des Wagens wider. »Wie konntest du so was tun, du elendes Schwein? Wie konntest du deiner eigenen Tochter so was antun? Wie konntest du nur?«
Sie saß im Auto auf dem Schulparkplatz und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie hatte es kaum bis zum Auto geschafft, ohne loszubrüllen und ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Sie hatte sich von Emily trennen müssen. Das Kind durfte das Ausmaß ihrer Wut nicht zu sehen bekommen. Sie brauchte Zeit, um sich abzureagieren, um ruhiger zu werden, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Sie brauchte Zeit, um einen Plan zu fassen, einen Entschluß, was sie tun sollte.
Sollte sie eine Konfrontation herbeiführen? Sollte sie einfach zu Michael in die Praxis stürmen und Emilys Beschuldigungen vor aller Welt herausschreien, ihm die Maske der Ehrbarkeit vom Gesicht reißen und diesen angeblichen Helfer und Beschützer kleiner Kinder als das entlarven, was er in Wirklichkeit war - ein Kinderschänder?
War es möglich, daß er auch andere Kinder belästigt hatte? Gelegenheit dazu bot sich ihm zweifellos genug. Es war sein Beruf, die Kranken und Verletzlichen zu betreuen. Wer war verletzlicher als ein krankes Kind? Und er war der heilige Dr. Michael
Whittaker, ein Mann in einer Position der Macht und des Vertrauens, Man verehrte und liebte ihn, betete ihn an. Konnte dieser Mann, dieser zärtliche und sanfte Liebhaber, wirklich solcher Gemeinheit und Niedrigkeit fähig sein?
Und was sagte das über sie? Wie hatte sie elf Jahre lang mit einem solchen Mann zusammenleben können, ohne auch nur den geringsten Verdacht zu schöpfen? Was sagte es über sie, daß sie sich so hatte täuschen lassen? Daß es ihm gelungen war, Kollegen, Bekannte und Freunde, die Patienten und die Arbeitgeber zu täuschen, war verständlich; keiner dieser Menschen hatte mit ihm zusammengelebt, das Bett mit ihm geteilt, in seinen Armen geschlafen.
Jane sah sich in seinen Armen liegen und sah sogleich ihre siebenjährige Tochter an ihrer Stelle. Ihr drehte sich der Magen um. Sie riß die Wagentür auf und übergab sich auf den schwarzen Asphalt des Schulparkplatzes. »Du Schwein! Du gottverdammtes Schwein!« schrie sie und versuchte vergeblich, ihre Wut zu bändigen. »Was soll ich jetzt tun?« rief sie verzweifelt und schlug auf die Hupe.
Sie wischte sich den Mund mit einem Papiertuch ab, das sie in ihrer Manteltasche fand, und warf es zur Tür hinaus. Umweltverschmutzung, dachte sie ironisch und beschloß, es auf eine direkte Konfrontation mit Michael nicht ankommen zu lassen. Sie würde die Auseinandersetzung ihren Anwälten überlassen, sobald sie und Emily irgendwo in Sicherheit waren. Jetzt mußte sie erst einmal ihre Wut beherrschen, damit sie einen vernünftigen Plan fassen konnte. Sie mußte nach Hause fahren, packen, nicht viel, nur das Notwendigste, und sich darüber klarwerden, wohin sie mit Emily wollte. Nach Boston, sagte sie sich. Wir gehen für ein paar Tage in ein Hotel, das Lennox vielleicht. Das Lennox hatte ihr immer gefallen. Von dort aus konnte sie mit ihren Freunden Verbindung aufnehmen, sich einen guten Anwalt empfehlen lassen.
Aber zuerst brauchte sie Geld. Sie mußte zur Bank. Sie hatten neun-, vielleicht zehntausend Dollar auf ihrem gemeinsamen Girokonto. Eine Unterschrift reichte, um Geld abzuheben. Okay, da fährst du jetzt hin, sagte sie sich, schlug die Wagentür zu, ließ den Motor an und fuhr auf die Straße hinaus.
Sie würde das ganze Geld vom Konto abheben. Bis Michael es merkte, würden sie und Emily längst fort sein. Mit Michael würde sie nur noch über Anwälte verkehren. Das war zweifellos für alle Beteiligten die beste Lösung. Wenn er ihr je wieder unter die Augen treten sollte, würde sie ihn womöglich umbringen.
Sie fuhr schnell, erreichte die Center Street in knapp zehn Minuten und parkte den Wagen unter einem Halteverbotsschild direkt vor der Bank. Sie stieß beinahe eine weißhaarige alte Frau um, als sie hineinrannte, und hörte die alte Dame derbe fluchen. Sie war nur wenig erstaunt. Nichts konnte sie jetzt mehr überraschen.
Sie kam häufig in diese kleine Bankfiliale. Sie kannte alle Angestellten mit Namen, und diese bildeten sich wahrscheinlich ein, sie zu kennen. Jane lachte laut, sah, wie alle die Köpfe nach ihr drehten, senkte den Kopf und wischte sich eine unerwartete Träne weg. Wie lange würde sie warten müssen? Warum ging es so
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