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Lauf, Jane, Lauf!

Titel: Lauf, Jane, Lauf! Kostenlos Bücher Online Lesen
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Hilfesuchenden entgegengebracht wurde, dazu ausgenutzt, sich an seinen kleinen Patienten zu vergreifen?
    Jane erinnerte sich an den Nachmittag, als sie Michael unangemeldet in seiner Praxis aufgesucht und im Wartezimmer gesessen hatte, bis er für sie Zeit gehabt hatte. Sie erinnerte sich an das kleine Mädchen, das weinend auf dem Schoß seiner Mutter
gesessen und darum gebettelt hatte, nach Hause gehen zu dürfen. Wie leichtfertig hatten sie das Weinen des Kindes abgetan! Wie taub waren sie für seine Angst und seinen Schmerz gewesen!
    War sie ihrem eigenen Kind gegenüber ebenso unsensibel gewesen?
    Sie hatte sich bemüht, eine vollkommene Mutter zu sein, so wie sie sich ihr Leben lang um Perfektion bemüht hatte, als kleines Mädchen in der Schule, später beim Studium und im Berufsleben. Sie hatte sich gewissenhaft um Emilys Erziehung gekümmert und sogar Kurse belegt, um ihren Aufgaben als Mutter besser gerecht werden zu können. Aber auch wenn sie vielleicht eine tüchtige Mutter gewesen war, so hatte doch Michael von Anfang an Emilys Herz gewonnen. Manchmal war Jane sogar eifersüchtig gewesen auf die selbstverständliche Beziehung der beiden, die natürliche Wärme und Ungezwungenheit, mit der Michael seine Vaterrolle wahrgenommen hatte. Sie hatte sich selbst stets als gute Mutter betrachtet; Michael aber war der geborene Vater gewesen. So hatte es zumindest ausgesehen.
    Jane fand die Abfahrt zum Highway 28 ohne Mühe. >Falmouth, 20 Meilen<, stand auf dem Schild. Sie umfaßte das Steuerrad fester und fuhr schneller. Die nächste halbe Stunde erschien ihr endlos. Jede Sekunde war eine Stunde; jede Minute ein ganzer Tag. Aber dann hatte sie plötzlich die Ausfahrt nach Woods Hole erreicht, und wenig später befand sie sich in einer rein ländlichen Gegend.
    Sie konnte das Wasser der Bucht sehen und fragte sich, ob Emily jetzt dort unten beim Schwimmen war. Oder war sie vielleicht schon fort? War es Carole gelungen, Michael zu erreichen? Hatte er sich mit seinen Eltern in Verbindung gesetzt? Waren sie samt Emily bereits mit unbekanntem Ziel abgereist? Vielleicht waren sie auf dem Highway an ihr vorübergefahren, und sie hatte es nicht bemerkt. Vielleicht war es schon zu spät.

    Sie lenkte den Wagen in eine kleine ungeteerte Straße unter dicht stehenden Bäumen, die es ihr ermöglichten, sich dem Haus relativ unauffällig zu nähern. In einer provisorischen Einfahrt aus kleinen weißen Steinen, mehrere Häuser von dem der Whittakers entfernt, stellte sie den Wagen ab. Das Häuschen der Whittakers hatte ihr immer gefallen. Beileibe kein Landsitz, sondern ein richtiges Sommerhaus, aus Holz gezimmert, einfach und ohne Luxus. Das Häuschen hatte fließendes Wasser und eine Toilette, aber das war auch schon alles, was es an modernem Komfort bieten konnte. Ein flüchtiges Lächeln huschte über Janes Gesicht, als sie an die vielen vergnügten Stunden dachte, die sie hier draußen mit Michael verbracht hatte. Aber sie wurde gleich wieder ernst, als sie lautlos die Tür öffnete, um auszusteigen.
    Sobald ihre Füße den Boden berührten, gaben ihre Knie nach. Sie fiel auf den harten Belag aus kleinen weißen Steinen, eine Hand noch am Türgriff. Mehrere Sekunden lang blieb sie so auf der Erde hocken, kraftlos und unfähig aufzustehen. Nur eine kleine Verschnaufpause, sagte sie sich, während sie gegen den Schlaf kämpfte. Langsam sah sie sich um.
    Sie war allein. Kein Mensch schien sie bemerkt zu haben. Die meisten Eigentümer der umliegenden Sommerhäuser waren wahrscheinlich in der Stadt, da es mitten in der Woche war. In der Ferne allerdings hörte sie Stimmen und Kindergelächter.
    Ein Bild von Emily, wie sie nur Meter entfernt fröhlich im Wasser planschte, trieb Jane in die Höhe. Die gute Luft wird mir schon die nötige Kraft geben, dachte sie. Nachdem sie ein paarmal tief Luft geholt hatte, setzte sie sich vorsichtig in Bewegung.
    Sie blieb auf dem Schotter und mied das Gras zu beiden Seiten der Straße, da sie wußte, daß dort gern kleine Schlangen in der Sonne schliefen. Sie erinnerte sich an einen Nachmittag, als sie alle zusammen hier draußen gewesen waren, drei Generationen von Whittakers, sie die einzige Außenseiterin. Sie hatte auf ein
Bad in der Bucht verzichtet, um sich im Liegestuhl in den Garten zu setzen und zu lesen. Kurz vor dem Einnicken hatte sie eine Bewegung neben ihrem Stuhl wahrgenommen und sofort gewußt, daß es eine Schlange war. Sie war schreiend aufgesprungen, beide Füße reichlich

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