Lauf, Jane, Lauf!
unsicher auf dem Liegestuhl. Sie hatte erwartet, daß die Schlange sich schleunigst verziehen würde, erschrockener als sie selbst. So jedenfalls hatten die Whittakers es immer geschildert. Aber die Schlange, eine gewöhnliche schwarze Ringelnatter mit einem gelben Streifen auf dem Rükken, hatte sich beinahe zu voller Höhe aufgerichtet und sie angestarrt wie hypnotisiert vom Klang ihrer Schreie.
Schlangen sind taub, hatte Michael ihr später erklärt, nachdem er vom Wasser heraufgelaufen war, um zu sehen, was es gab. Die Schlange war da schon längst verschwunden. Es muß ein Frosch gewesen sein, behauptete Michael beim Abendessen. Nein, es war eine Schlange, entgegnete Jane. Ich weiß doch, wie Schlangen aussehen. Michaels Eltern hatten gelacht und verständnisinnige Blicke getauscht. Es war klar, wem sie glaubten.
Jane senkte den Kopf und pirschte sich näher an das kleine Holzhaus heran. In der Einfahrt stand kein Wagen. Was hatte das zu bedeuten? Daß sie unterwegs waren? Vielleicht einen Ausflug machten? Daß ihr Sohn sie schon erreicht und ihnen befohlen hatte, Emily ins Auto zu packen und zu verschwinden?
Jane sah sich hastig nach allen Richtungen um, ehe sie die letzten Schritte zur Vorderveranda des Hauses hinaufrannte. Alles war still. Jane blieb einen Moment lauschend stehen, dann näherte sie sich vorsichtig dem Fenster. Von drinnen kam kein Laut. Mit angehaltenem Atem spähte sie durch das Fenster in den Wohnraum.
Alles war genauso, wie sie es in Erinnerung hatte: die Wände rohes Holz genau wie außen; die Möbel alt und gemütlich bis auf das ultramoderne Fernsehgerät, das rechts vom offenen Kamin stand. Der Wohnraum ging direkt in Eßnische und Küche über,
Türen gab es nur zu den drei kleinen Schlafzimmern und dem Badezimmer im hinteren Teil des Häuschens. Alles war still. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm.
Waren sie vielleicht wirklich schon abgefahren? War sie zu spät gekommen?
Jane sah das frische Obst in dem Korb auf dem Eßtisch. Das mußte nicht unbedingt heißen, daß sie noch hier waren. Wenn Michael wirklich angerufen hatte, hatten sie wahrscheinlich alles stehen und liegen gelassen und waren Hals über Kopf abgefahren.
Sie mußte ins Haus und schauen, wie es drinnen aussah.
Die Tür war abgeschlossen. Es überraschte sie nicht. Die Whittakers sperrten immer ab, auch wenn sie nur zum Strand hinuntergingen. Man konnte nie vorsichtig genug sein; man konnte nie wissen, wer hier herumschlich und es vielleicht auf den ultramodernen Fernseher abgesehen hatte.
Jane lief um das Häuschen herum nach hinten, wo sich die drei Schlafzimmer befanden. Die Fenster waren offen, durch Fliegengitter geschützt. Sie suchte sich im Gras einen dicken Stock, den sie so oft gegen das Fliegengitter des Elternschlafzimmers rammte, bis das Gitter aus dem Rahmen sprang. Sie blickte sich hastig um, hoffte, daß niemand sie gesehen hatte, und stieg durch das Fenster ins Haus.
Als sie auf dem großen Doppelbett landete, hörte sie die Alarmanlage losbimmeln. O Gott, nein! Auch das noch, dachte sie entsetzt. Ihr war so flau, daß sie sich am liebsten einfach in das weiche Bett hätte sinken lassen. Dann hörte das Läuten einen Moment auf und setzte gleich wieder ein. Es war nicht die Alarmanlage, es war das Telefon.
War das Michael, der anrief? Hatte Carole ihn erreicht? Wollte er seine Eltern vor ihrer bevorstehenden Ankunft warnen? Oder war es einfach ein Bekannter aus der Stadt, der anrief, um seinen Besuch anzusagen? Oder vielleicht jemand aus der
Nachbarschaft, der melden wollte, daß er eine verdächtige Gestalt in der Nähe des Hauses gesichtet hatte?
Jane sprang vom Bett und zog die Schubladen der kleinen Kommode auf, die an der Wand stand. Im stillen zählte sie mit, wie oft das Telefon läutete. Fünf... sechs... sieben. Die Kommode war so vollgefüllt mit Kleidungsstücken wie der Schrank. Das bewies allerdings nicht, daß die Whittakers noch hier waren. Sie konnten mit der Überlegung abgefahren sein, daß sie später jederzeit noch etwas holen konnten.
Jane ging von Raum zu Raum. Im Bad hing ein noch feuchter Kinderbadeanzug über dem Wannenrand, und der Kühlschrank war, wenn auch nicht gerade übervoll, so doch wenigstens nicht ausgeräumt. Es war möglich, daß sie noch hier waren.
Das Telefon läutete zwanzigmal, ehe es endlich schwieg. Da mußte es jemand sehr dringend haben, die Whittakers zu erreichen. Jane sah auf ihre Uhr. Es war fast Mittag. Wo konnten sie sein? Sie ging in den
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