Lauf, Jane, Lauf!
wartet? Ob der Mann, der ihr Ehemann zu sein behauptete, einen ebenso dramatischen Auftritt hinlegen würde wie jener Gentleman, der hoch zu Roß herangaloppiert war, nur um dann vor den Augen seiner verwirrten Heldin vom Pferd zu stürzen und sich den Knöchel zu verstauchen? Würde er ebenso groß und dunkel und streng sein? Und würde sie ihn vielleicht so wenig erkennen, wie Jane Eyre die zukünftige große Liebe ihres Lebens erkannt hatte?
Und wie wäre es mit der anderen Jane, Lady Jane Grey, kindliche Anwärterin auf den englischen Thron, die enthauptet worden
war, nachdem sie den Versuch gemacht hatte, jemand zu sein, der sie nicht war.
Oder Jane, die auf der Suche nach Tarzan durch den Urwald irrte: >Ich Tarzan, du Jane<. War das vielleicht die Erklärung für ihren seltsamen Traum beim CT? Hatte ihr Unbewußtes ihr über die Dschungelsymbolik den Weg zu sich selbst zeigen wollen? Du Jane. War es wirklich so einfach?
Du Jane. Such, Jane. Lauf, Jane, lauf.
Sie unterdrückte den plötzlichen Impuls, aus ihrem Sessel aufzuspringen und davonzulaufen, sich in die sichere Anonymität des Lennox Hotels zu flüchten und unter der Bettdecke zu verstecken. Ihre Tage in Gesellschaft der Jungen und Rastlosen zu verbringen, die langen Abende mit Johnny Carson und David Letterman. Sie wollte den Mann nicht sehen, der behauptete, ihr Mr. Rochester zu sein. Michael Whittaker, hatten sie ihr gesagt. Ein Arzt, hatten sie beeindruckt berichtet und sie mit neuem Respekt angesehen. Ein angesehener Kinderchirurg.
Sie zwang sich, im Sessel sitzenzubleiben. Wohin hätte sie denn auch fliehen können? Saßen nicht im Nebenzimmer die Polizei, die Ärzte und ihr Mann beisammen, um ihre Vergangenheit zu sezieren und über ihre Zukunft zu entscheiden? Wie hatte sie erwarten können, zu diesen Entscheidungen hinzugezogen zu werden, da sie doch so eindeutig alle Verantwortung für ihr eigenes Leben abgeschüttelt hatte? Da sie sich doch entschieden hatte, die Realität hinter sich zu lassen und ihr Heil in hysterischer Flucht zu suchen.
»Ach, verdammt!« rief sie laut und sah sich sofort schuldbewußt um. Aber niemand hatte sie gehört. Sie war allein im Zimmer, schon seitdem ein Polizeibeamter gemeldet hatte, Dr. Whittaker sitze im Wartezimmer, und die Ärzte hinausgegangen waren und sie wiederum zur nicht Existierenden reduziert hatten. Wenn dieser Mann mich nicht kennen sollte, bin ich dann weniger real? fragte sie sich unwillkürlich.
Was war er für ein Mensch, dieser Dr. Michael Whittaker, anerkannter Kinderchirurg, den alle Welt zu kennen und zu bewundern schien? Die Mediziner sprachen seinen Namen mit Respekt, nein, geradezu ehrfürchtig aus. Selbst Dr. Klingers steinernes Gesicht hatte einen Anflug von Wohlwollen gezeigt, und Dr. Meloff hatte augenblicklich entschieden, alle weiteren Untersuchungen aufzuschieben, bis er Gelegenheit gehabt hatte, mit dem hochgeachteten Kollegen zu sprechen.
»Ihr Mann ist ein wunderbarer Mensch«, hatte Dr. Irene Borovoy noch einmal beteuert, ehe sie losgelaufen war, um Dr. Meloff zu holen. Das schien die einhellige Meinung aller zu sein: daß sie mit einem wunderbaren Menschen verheiratet war. Wirklich, sie konnte sich glücklich schätzen.
Aber wieso trug sie nicht seinen Ring?
Es wäre doch normal gewesen, sagte sie sich, daß sie, wenn sie in der Tat die Ehefrau des bekannten Kinderchirurgen Michael Whittaker war, den Beweis dafür am Ringfinger ihrer linken Hand tragen würde. Aber ein solcher Beweis war nicht vorhanden. Abgesehen von ihrer Armbanduhr trug sie überhaupt keinen Schmuck. Höchstwahrscheinlich war also Dr. Michael Whittaker nicht ihr Ehemann. Er hatte ja auch bei der ersten Kontaktaufnahme vor mehreren Stunden zunächst behauptet, seine Frau sei verreist, zu Besuch bei ihrem Bruder in San Diego.
Ein Bruder in San Diego? überlegte sie verwundert. War das möglich? War sie auf der Fahrt zu ihm gewesen und unterwegs überfallen worden, beraubt und brutal mißhandelt? Vielleicht - nur erklärte das leider nicht, wie das Geld am Ende in ihre Taschen gekommen war und das fremde Blut auf ihr Kleid.
Ein Bruder. Ein Bruder und ein Ehemann. Zwei zum halben Preis. Aber zu welchem Preis?
Es klopfte, und die Tür ging auf. Dr. Meloff kam herein. Ihm folgten mehrere Polizeibeamte. Sie lächelten, aber sie sahen ernst aus. Sie lächeln mit ernster Miene, dachte sie, und erwiderte
unwillkürlich das Lächeln. Sie hatte so viele Fragen, daß sie nicht wußte, welche sie zuerst
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