Lauf, Jane, Lauf!
stellen sollte. Also sagte sie gar nichts.
»Sie sind Jane Whittaker«, klärte Dr. Meloff sie freundlich und behutsam auf, und ihr schossen die Tränen in die Augen. »Ihr Mann wartet im Nebenzimmer auf Sie. Meinen Sie, Sie sind einer Begegnung jetzt gewachsen?«
Sie brauchte ihre ganze Kraft zum Sprechen, und selbst dann mußte Dr. Meloff sich ihr zuneigen, um ihre Worte hören zu können. »Sind Sie sicher? Wie können Sie es mit solcher Gewißheit sagen?«
»Er hat Fotos mitgebracht. Außerdem Ihren Paß und Ihre Heiratsurkunde. Sie sind es, Jane. Es gibt keinen Zweifel.«
»Ich dachte, Dr. Whittakers Frau wäre zu Besuch bei ihrem Bruder in San Diego.«
»Ja, das dachte er auch. Aber offenbar ist sie dort nie erschienen.«
»Hätte mein Bruder ihn dann nicht sofort angerufen? Ich meine, wenn ich schon vor ein paar Tagen eigentlich in San Diego hätte ankommen müssen?...«
Einer der Polizeibeamten lachte.
»Sie sind die reinste Detektivin«, sagte Dr. Meloff. »Officer Emerson hat die gleiche Frage gestellt.«
»Auf die er offensichtlich eine einleuchtende Antwort hatte«, meinte sie.
»Sie wollten Ihren Bruder mit Ihrem Besuch überraschen. Ihr Bruder erfuhr erst von Ihrer Absicht, ihn zu besuchen, als Ihr Mann bei ihm anrief, um zu fragen, ob Sie angekommen seien.«
Einen Moment war es still. »Dann bin ich also wirklich diese Jane Whittaker«, sagte sie beinahe resigniert.
»Ja, Sie sind wirklich Jane Whittaker.«
»Und mein Mann wartet im Nebenzimmer.«
»Er kann es kaum erwarten, Sie zu sehen.«
»Wirklich?«
»Er ist selbstverständlich sehr besorgt.«
Sie hätte beinahe gelächelt.
»Er war so sicher, daß Sie in San Diego sind.«
»Und jetzt ist er sicher, daß ich hier bin. Vielleicht irrt er sich dieses Mal auch.«
»Er irrt sich nicht.«
»Was hat er über mich gesagt?« fragte sie, um die unvermeidliche Konfrontation hinauszuzögern und um nicht so völlig im dunklen zu tappen.
»Ich finde, Sie sollten lieber mit ihm selbst sprechen.« Dr. Meloff wandte sich zur Tür.
»Bitte!« rief sie, und bei ihrem dringlichen Ton blieb er stehen. »Ich kann noch nicht.«
Dr. Meloff kam wieder zu ihr. »Jane«, sagte er beruhigend, »Sie brauchen keine Angst zu haben. Er ist Ihr Mann. Und er liebt Sie sehr.«
»Aber was ist, wenn ich ihn nicht erkenne? Wenn ich ihn anschaue, so wie ich jetzt Sie anschaue, und nur einen Fremden sehe? Haben Sie eine Ahnung, was für Angst mir diese Vorstellung macht?«
»Kann es denn viel schlimmer sein, als in den Spiegel zu sehen?« fragte er logisch, und sie hatte keine Erwiderung darauf. »Wollen Sie es jetzt versuchen, Jane? Ich finde, es ist nicht fair, ihn viel länger warten zu lassen.«
»Aber Sie bleiben, ja? Sie lassen uns nicht allein!« Die letzten Worte klangen wie ein Befehl.
»Ich bleibe, bis Sie mich bitten zu gehen.« Er wandte sich wieder zur Tür.
»Dr. Meloff!« Er drehte sich um. »Ich wollte Ihnen nur danken.«
»Es war mir ein Vergnügen.« Er schwieg einen Moment, dann sagte er: »Ich bin immer für Sie da, Jane.«
Dann öffnete er die Tür und trat in den Korridor hinaus. Sie wartete mit angehaltenem Atem, sprang auf, setzte sich hastig wieder, sprang von neuem auf, lief zum Fenster hinüber und blieb dort stehen. Die Polizeibeamten beobachteten sie mit freundlicher Neugier von der anderen Seite des Raumes.
»Nur keine Angst, Mrs. Whittaker«, sagte Officer Emerson. »Er ist wirklich ein sehr netter Mann.«
»Ja, aber wenn ich ihn nun nicht erkenne?« fragte sie angstvoll. »Was ist, wenn ich ihn nicht erkenne?«
Sie erkannte ihn tatsächlich nicht.
Der Mann, der vor Dr. Meloff ins Zimmer trat, war ihr völlig fremd. Er war vielleicht vierzig Jahre alt, groß, sicher einen Meter achtzig, schlank, mit ziemlich langem, hellen Haar, das früher, als er noch ein Kind war, sicher blond gewesen war. Selbst der Ausdruck ängstlicher Besorgnis auf seinem Gesicht konnte nicht verbergen, daß er sehr gut aussah, die Augen graugrün, der Mund voll und klar gezeichnet. Das Ebenmaß seiner Züge wurde einzig gestört von der Nase, die ein wenig schief war. Diese kleine Unvollkommenheit machte ihn menschlicher und augenblicklich sympathisch. Er war kein Adonis. Sie brauchte keine schöne Helena zu sein.
Er lief mit ausgestreckten Armen auf sie zu, ganz instinktiv. Ebenso instinktiv wich sie vor ihm zurück. Er blieb abrupt stehen. »Entschuldige«, sagte er hastig, und ihr fiel auf, daß seine Stimme zärtlich und fest zugleich war.
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