Lauf, Jane, Lauf!
»Ich bin nur so froh und erleichtert, dich zu sehen.« Er hielt inne. Sein Blick glitt von ihrem verängstigten Gesicht zu Boden. »Du erkennst mich nicht, nicht wahr?« sagte er, und sie hörte die Tränen in seiner Stimme.
»Ich möchte ja gern«, erwiderte sie leise.
»Wir lassen Sie jetzt allein«, verkündete Officer Emerson und marschierte mit seinem Kollegen zur Tür.
»Vielen Dank für alles«, rief sie ihnen nach und fixierte Dr. Meloff mit flehendem Blick.
»Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte der, »bleibe ich noch ein paar Minuten.«
»Ja, ich glaube, das wäre eine Erleichterung für Jane«, meinte Michael Whittaker sofort. Er versuchte zu lächeln, und es gelang ihm beinahe. »Für mich ehrlich gesagt auch.« Er holte tief Atem. »Ich bin ziemlich nervös.«
»Warum bist du nervös?« fragte sie. Der Gedanke, daß er so aufgeregt und ängstlich sein könnte wie sie, war ihr gar nicht gekommen.
»Ich komme mir vor wie beim ersten Rendezvous«, antwortete er freimütig. »Und ich möchte unbedingt einen guten Eindruck machen.« Er lachte unsicher. »Ich dachte, ich wäre auf alles gefaßt«, fuhr er fort, »aber ich muß gestehen, ich habe keine Ahnung, wie ich mit dieser Situation umgehen soll.« Er blickte vom Boden auf und sah ihr in das angespannte Gesicht. »Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.«
»So etwas ist also noch nie vorgekommen.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Guter Gott, nein.«
»Und warum jetzt? Was glaubst du?«
Er schüttelte nur wortlos den Kopf.
Er war sportlich gekleidet, trug eine graue Hose und ein blaues Hemd mit offenem Kragen. Sie bemerkte, daß seine Schultern leicht nach vorn gekrümmt waren, vermutlich eine Folge langer angespannter Stunden am Operationstisch. Er stand mit hängenden Armen und schien nicht zu wissen, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Chirurgenhände, dachte sie, als sie die sorgfältig gepflegten Nägel sah und sich vorstellte, wie diese langgliedrigen Hände geschickt und präzise am Operationstisch hantierten. Behutsame Hände, kräftige Finger. Ihr fiel plötzlich der schmale goldene Trauring an seiner linken Hand auf.
»Wieso trage ich keinen Ehering?« fragte sie unvermittelt und überraschte nicht nur ihn, sondern auch sich selbst mit der
Frage. »Ich meine, du trägst einen und ich nicht. Ich finde das ein bißchen merkwürdig...«
Er antwortete erst nach einer kurzen Pause. »Du trägst schon eine ganze Weile keinen Ehering mehr«, erklärte er langsam, während sie ihn forschend ansah. »Du hast plötzlich eine allergische Reaktion gegen das Gold entwickelt. Du bekamst unter dem Ring starken Juckreiz, und deine Haut war gerötet und rauh. Eines Tages hast du den Ring abgenommen und nicht wieder angelegt. Wir sprachen dauernd davon, daß wir dir einen anderen kaufen würden, etwas mit Brillanten - gegen Brillanten sei schließlich kein Mensch allergisch, sagten wir immer lachend -, aber irgendwie sind wir nie dazu gekommen. Um ehrlich zu sein, ich hatte das ganz vergessen.« Er schüttelte den Kopf wie erstaunt darüber, daß er so etwas hatte vergessen können.
»Du würdest dich wundern, was man alles vergessen kann«, sagte sie mit dem Bemühen, ihm aus der Verlegenheit zu helfen.
Er lachte, und plötzlich lachte sie auch.
»Das ist jetzt vielleicht für mich der richtige Moment zu verschwinden«, bemerkte Dr. Meloff, und sie nickte. »Geben Sie jemandem vom Personal Bescheid, wenn Sie gehen wollen. Ich würde mich gern noch von Ihnen verabschieden.«
»Er scheint ein sehr netter Mann zu sein«, bemerkte Michael, nachdem Dr. Meloff gegangen war.
Sie lächelte. »Genau das sagen sie alle von dir.«
Er seufzte. »Was kann ich tun, um dir Sicherheit zu geben, Jane? Sag mir, wie ich dir helfen kann.«
Sie entfernte sich vorsichtig vom Fenster und trat näher zu ihm, achtete jedoch darauf, ein paar Schritte Abstand zu lassen.
»Wie lange sind wir verheiratet?« fragte sie und kam sich dabei ungeheuer töricht vor.
»Elf Jahre«, antwortete er schlicht, ohne den Versuch, irgend etwas auszuschmücken. Das gefiel ihr.
»Wann haben wir geheiratet? Wie alt war ich damals?«
»Wir haben am 17. April 1979 geheiratet. Du warst dreiundzwanzig.«
»Dann bin ich jetzt also vierunddreißig?« fragte sie, obwohl die Antwort eigentlich auf der Hand lag.
»Du wirst am 13. August vierunddreißig. Möchtest du unsere Heiratsurkunde sehen?«
Sie nickte und trat noch etwas näher zu ihm, als er in die
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