Lauf, Jane, Lauf!
Tasche griff und die Urkunde herauszog.
»Da steht, daß wir in Connecticut geheiratet haben«, stellte sie fest und spürte die Wärme, die von seinem Körper ausging.
»Da kamst du her. Deine Mutter lebt noch dort.«
»Und mein Vater?«
»Dein Vater starb, als du dreizehn Jahre alt warst.«
Sie war plötzlich traurig, nicht weil ihr Vater gestorben war, als sie noch ein halbes Kind war, sondern weil sie keinerlei Erinnerung an ihn hatte. Sie fühlte sich doppelt verlassen.
»Und wie bin ich in Boston gelandet?«
Er lächelte. »Du hast mich geheiratet.«
Sie schwieg. Sie wollte jetzt noch nicht über ihr gemeinsames Leben mit ihm sprechen. Erst mußte sie mehr über sich selbst wissen, die Fakten verarbeiten, ein Gefühl für ihre eigene Geschichte bekommen.
»Möchtest du deinen Paß sehen?« fragte er und hielt ihn ihr hin, als wäre er ein Beweisstück und dieses Krankenhauszimmer ein Gerichtssaal.
Sie blätterte eilig das Büchlein durch, sah, daß sie mit Mädchennamen Lawrence geheißen hatte, daß ihre Personenbeschreibung sich mit dem deckte, was sie selbst über sich herausgefunden hatte, und die Fotografie, wenn auch wahrhaftig nicht schmeichelhaft - sie sah aus wie ein verschrecktes Huhn -, in der Tat ein Bild von ihr war.
»Hast du noch andere Fotos?« fragte sie, obwohl sie bereits wußte, daß er welche bei sich hatte.
Er zog mehrere Aufnahmen aus seiner Hosentasche. Sie neigte sich zu ihm hinüber, so daß ihre Arme einander berührten, als er ihr die Fotos zeigte.
Das erste Bild zeigte sie zusammen an einem Strand. Er war braungebrannt; sie nicht ganz so dunkel. Sie trug einen schwarzen Badeanzug, er eine schwarze Badehose, und beide sahen sie aus, als könnten sie kaum die Hände voneinander lassen.
»Wo ist das aufgenommen?« fragte sie.
»Auf Cape Cod. Nicht weit vom Haus meiner Eltern. Vor ungefähr fünf Jahren«, fügte er hinzu, als wüßte er, daß das ihre nächste Frage sein würde. »Da glaubten wir noch, daß die Sonne uns nur guttun kann. Dein Haar war damals ein bißchen länger. Und ich hab wahrscheinlich ein paar Pfund weniger gewogen.«
»Du siehst aber nicht aus, als hättest du zugenommen.« Sie war sofort so verlegen, als wäre sie zu persönlich geworden. Hastig wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem zweiten Foto zu.
Arm in Arm standen sie lächelnd vor der Kamera, diesmal jedoch feierlich gekleidet, er im Smoking, sie in einem cyclamfarbenen Abendkleid.
»Das ist ein jüngeres Bild«, stellte sie fest.
»Ja, es wurde Weihnachten aufgenommen. Wir waren auf der Weihnachtsfeier des Krankenhauses.«
»Wir sehen sehr glücklich aus«, meinte sie halb verwundert.
»Wir waren auch sehr glücklich«, sagte er mit Betonung, und dann leiser: »Und wir werden es auch wieder sein.«
Sie schloß die Hände über den Fotografien und gab sie ihm zusammen mit der Heiratsurkunde und dem Reisepaß zurück. Dann ging sie zum Fenster zurück und sah einen Moment zur Straße hinunter, ehe sie sich wieder dem Fremden zuwandte, mit dem sie seit elf Jahren - allem Anschein nach sehr glücklich - verheiratet war.
»Ich bin also in Connecticut aufgewachsen«, sagte sie nach einer langen Pause.
»Ja. Du hast dort gelebt, bis du aufs College gegangen bist.«
»Was habe ich im Hauptfach studiert? Weißt du das?«
Er lächelte. »Natürlich weiß ich das. Anglistik. Du hast ein hervorragendes Examen gemacht.«
»Und danach?«
»Danach hast du festgestellt, daß gute Stellen für gute Anglistinnen ziemlich dünn gesät sind. Lehrerin wolltest du aber auf keinen Fall werden, darum hast du schließlich bei Harvard Press angefangen.«
»In Boston?«
»Nein, in Cambridge.«
»Warum bin ich nicht nach Connecticut zurückgegangen oder habe mir etwas in New York gesucht?«
»Hm, ich hoffe, daß ich damit etwas zu tun hatte.«
Sie wandte sich wieder dem Fenster zu, noch immer nicht bereit, mit ihm über ihr gemeinsames Leben zu sprechen.
»Und mein Bruder?« fragte sie.
Die Frage schien ihn zu überraschen. »Tommy? Was möchtest du wissen?«
»Wie alt ist er? Was macht er beruflich? Warum lebt er in San Diego?«
»Er ist sechsundreißig«, begann er ruhig, eine Frage nach der anderen beantwortend. »Er hat die Generalvertretung für eine Yachtfirma und lebt seit zehn Jahren in San Diego.«
»Ist er verheiratet?«
»Ja. Zum zweiten Mal. Seine Frau heißt Eleanor. Aber ich weiß nicht genau, wie lange die beiden verheiratet sind.«
»Haben sie Kinder?«
»Ja, zwei kleine Jungen.
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