Lauf, Jane, Lauf!
einem
Fall gehört, bei dem dieser Zustand länger als zwei Monate anhielt.«
»Zwei Monate?«
»Diese Zustände geben sich im allgemeinen so plötzlich, wie sie auftreten, meist innerhalb weniger Tage oder Wochen.« Er gab ihr einen leichten Klaps der Ermunterung auf die Hand. »Kommen Sie, lassen wir die Ratespiele. Es ist gescheiter, wir nehmen gleich die notwendigen Untersuchungen in Angriff.« Er beugte sich zu einem Sessel hinüber und nahm von dort eine Zeitschrift, die jemand liegengelassen hatte. »Entspannen Sie sich, lesen Sie nach, was in der Welt passiert, die Sie vielleicht vergessen haben.« Er warf einen Blick auf das Datum auf dem Titelblatt der Illustrierten. »Hm, lesen Sie nach, was vor anderthalb Jahren passiert ist. Wenn ich wiederkomme, machen wir ein Quiz.«
Sie blieb in ihren neuen Kleidern, mit ihrer neuen Handtasche auf dem Schoß auf dem Untersuchungstisch sitzen, spürte den Druck des Schlüssels, den sie unter der Innensohle ihres neuen Schuhs verborgen hatte, an ihrem nackten Fuß und fragte sich, ob sie Dr. Meloff die ganze Wahrheit sagen solle. Ob sie ihm von dem Geld erzählen solle. Von dem Blut an ihrem Kleid. Das würde seine Theorie von der hysterischen Amnesie sicherlich untermauern. Und dann? Würde er schnurstracks zur Polizei gehen, oder war er an seine ärztliche Schweigepflicht gebunden? Was würde sie denn erreichen, wenn sie ihm ihr Herz ausschüttete? Doch nur, daß sie sich hinterher etwas erleichtert fühlen und vielleicht um eine Rückenmarkspunktierung und ein Arteriogramm herumkommen würde.
War das nicht Grund genug?
Mit einem tiefen Seufzer beschloß sie, Dr. Meloff reinen Wein einzuschenken, sobald er zurückkam. Inzwischen würde sie tun, was er vorgeschlagen hatte, und ihre Bekanntschaft mit der nicht allzu fernen Vergangenheit auffrischen, um ihr Erinnerungsvermögen zu prüfen.
Sie blätterte in den abgegriffenen Seiten der Illustrierten, grinste über ein Foto Dan Quayles bei einem Besuch in Latein-Amerika, versenkte sich einen Moment lang in den intensiven Blick von Tom Cruises blauen Augen, lächelte über die Gewagtheit der einst hochmodischen Entwürfe von Christian LaCroix. Und dann bemerkte sie plötzlich eine junge Frau, die an der offenen Tür stand und sie anstarrte. Sie ließ die Zeitschrift zu Boden fallen.
»Entschuldigen Sie«, sagte die junge Frau im blütenweißen Kittel und bückte sich hastig, um die Illustrierte aufzuheben. »Ich dachte schon vorhin, als ich vorbeikam, daß wir uns kennen, aber ich war mir nicht sicher. Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht an mich -«
»Wer sind Sie?« unterbrach sie ungeduldig.
»Dr. Irene Borovoy. Wir sind uns vor gut einem Jahr im Kinderkrankenhaus begegnet. Ich war Assistenzärztin bei Ihrem Mann.« Sie brach abrupt ab und fragte leicht verlegen. »Sie sind doch Dr. Whittakers Frau? Jane Whittaker? Ich irre mich doch nicht?«
»Jane Whittaker«, wiederholte sie zögernd.
»Ihr Mann ist ein wunderbarer Mensch.«
»Jane Whittaker«, sagte sie wieder und lauschte dem Klang des unbekannten Namens nach.
»Kümmert sich jemand um Sie, Mrs. Whittaker?« fragte Dr. Borovoy besorgt. »Geht es Ihnen gut?«
Sie blickte in die klaren blauen Augen der jungen Ärztin. »Jane Whittaker«, sagte sie nachdenklich.
5
Sie wartete auf den Mann, der behauptete, ihr Ehemann zu sein, und im Augenblick noch mit Ärzten und Polizeibeamten sprach.
»Jane Whittaker«, sagte sie wieder, in der Hoffnung, daß sich der Name durch ständige Wiederholung einen Weg in ihr Gedächtnis bahnen und die Mauern des Vergessens sprengen würde. Aber die Worte klangen hohl und hatten keine Resonanz. Sie vibrierten nur so lange in ihrem Kopf, wie sie brauchte, um sie auszusprechen, dann verflüchtigten sie sich, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie brachten keine Offenbarung, keine plötzliche Erleuchtung. Sie lösten keine Emotionen aus, nur ein verwunderliches Gefühl der Gleichgültigkeit. »Jane Whittaker«, flüsterte sie, jede Silbe in die Länge ziehend, und fühlte nichts dabei. »Jane Whittaker.«
Wie passend, daß sie ausgerechnet Jane hieß. Das war doch der Name, den man unbekannten weiblichen Leichen zu geben pflegte, die man im Bostoner Hafen treibend fand? Unbekannten Frauen, die ermordet auf der Straße gefunden wurden. Jane Doe, das war doch der Name, der auf jeder Musterkreditkarte stand. »Jane Doe«, flüsterte sie.
Oder wie wäre es mit Jane Eyre, die auf das Erscheinen des geheimnisvollen Mr. Rochester
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