Lauf, Jane, Lauf!
vergessen. Im übrigen stellt sich diese Störung meist im Zusammenhang mit Alkoholmißbrauch ein, und den haben wir definitiv ausgeschlossen.«
»Was haben Sie denn nicht ausgeschlossen?«
»Ich kann nur vermuten - und es ist wirklich nur eine Vermutung«, betonte er, »daß Ihre Amnesie auf ein seelisches Trauma zurückzuführen ist.«
»Sie halten mich für verrückt?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber Sie meinen, es spielt sich alles nur in meinem Kopf ab«, sagte sie beinahe zornig.
»Ich meine, daß Sie möglicherweise an einem nichtpsychotischen Syndrom leiden.«
Sie spürte, wie sie ungeduldig wurde. »Würden Sie bitte Klartext mit mir reden, Dr. Meloff?«
Er wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. »Jeder Mensch hat eine Angstgrenze. Wenn diese Grenze überschritten wird, flüchten sich manche Menschen in einen plötzlichen Gedächtnisverlust. Man nennt das eine hysterische Amnesie. Dieser Zustand ist meist durch den Zwang davonzulaufen charakterisiert. Wenn die Lebenssituation allzu belastend wird, entzieht sich der Betroffene durch Flucht.«
»Aber Dr. Meloff, unzählige Menschen leben tagtäglich unter
schwersten seelischen Belastungen. Die laufen doch auch nicht einfach davon und vergessen, wer sie sind.«
»Manche schon. Andere bekommen einen Nervenzusammenbruch, schlagen ihre Kinder, haben Affären, rauben eine Bank aus, bringen vielleicht sogar jemanden um. Die Hysterie hat viele Erscheinungsformen.«
Sie schaute zur Zimmerdecke hinauf, unterdrückte ein paar unerwünschte Tränen und sah vor sich das Bild ihres blutbespritzten Kleides. »Sie halten mich also für eine Hysterikerin?«
»Zwischen einem Hysteriker und jemandem, der an einer hysterischen Amnesie leidet, besteht ein gewaltiger Unterschied. Die hysterische Amnesie ist ein Schutzmechanismus, eine Überlebensstrategie, wenn Sie so wollen. Es geht dabei um den Verlust der Erinnerung an eine bestimmte Zeitspanne im Leben eines Menschen, eine Zeitspanne, die häufig mit starken Gefühlen von Angst oder Wut oder mit tiefer Scham und Demütigung verbunden ist.«
»Das klingt, als hätten Sie das eben nachgelesen.«
Er lachte ein wenig. »Ich habe mich auf dem Weg hierher mit einem unserer Psychiater unterhalten.«
»Vielleicht sollte ich mich lieber mal mit dem Psychiater unterhalten.«
Er nickte zustimmend. »Zuerst würde ich gern noch einige Untersuchungen machen. Nur um ganz sicherzugehen, daß wir nichts übersehen haben.«
»Was für Untersuchungen?«
»Ich dachte an einige weitere Gehirnuntersuchungen. Es gibt da beispielsweise eine, bei der das Gehirn im Unterschied zum CT mit Hilfe eines Magneten abgebildet wird. Dann gibt es den sogenannten BEAM-Test, eine Computeranalyse der Gehirntätigkeit, die dem EEG recht ähnlich ist. Und schließlich käme auch noch ein PET in Frage, das ist eine Positronen-Emissions-Tomographie, bei der unter Einsatz von radioaktivem Material der
Glukoseumsatz im Gehirn gemessen werden kann. Das wäre so ziemlich alles«, sagte er lächelnd.
»Und wenn die Ergebnisse dieser Untersuchungen in Ordnung sind?«
»Dann könnten wir noch eine Rückenmarkspunktierung vornehmen, um festzustellen, ob wir es mit einer Infektion des Nervensystems zu tun haben, und vielleicht ein Arteriogramm der zum Gehirn führenden Gefäße.«
»Oder wir könnten mich einfach zum Psychiater schicken«, meinte sie. Diese Alternative erschien ihr plötzlich sehr verlokkend.
»Oder wir könnten Sie einfach zum Psychiater schicken, ja«, stimmte er zu.
»Und was könnte der Psychiater mit mir anfangen? Ich meine, ich habe schließlich nichts zu offenbaren.«
Und das Geld? Und das Blut auf deinem Kleid? hörte sie irgendwo in ihrem Kopf eine Stimme und wehrte sie mit einem kurzen Kopfschütteln ab.
»Es wird Sie vermutlich einer Reihe psychologischer Tests unterziehen«, antwortete Dr. Meloff.
»Noch mehr Tests«, murrte sie.
»Tja, darin sind wir eben Meister.«
»Und wie lange soll das alles dauern?«
»Kommt ganz darauf an, wie schnell es sich arrangieren läßt. Aber mit ein paar Tagen müssen Sie schon rechnen.«
Sie stöhnte.
»Was ist denn? Haben Sie es so eilig?«
»Ja, ich hatte gehofft, in ein paar Tagen wäre dieser Alptraum längst vorbei.«
Er trat neben sie und nahm ihre Hand. »Das ist ja auch nicht ausgeschlossen.« Sie sah ihn erwartungsvoll an. »Bei der hysterischen Amnesie, wenn wir es hier mit einer zu tun haben, kann die Rückwende jederzeit eintreten. Und ich habe nie von
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