Lauf, Jane, Lauf!
stand ein glänzendes Ebenholzklavier. Zögernd trat Jane näher, legte ihre Finger auf die Tasten und klimperte eine Melodie von Chopin.
Die zarten Klänge überraschten sie. Sie sah zu ihren Fingern hinunter, die sofort tolpatschig und vergeßlich wurden. Ihr Klavierspiel war offenbar eine Reflexhandlung, die näherer Betrachtung nicht standhalten konnte.
»Keine Sorge«, sagte Michael. »Das kommt schon wieder. Du darfst nur nicht ständig darüber nachdenken, was du tust.«
»Ich hatte keine Ahnung, daß ich Klavier spielen kann.« Ihre Stimme klang wehmütig.
»Du hattest als Kind Unterricht. Ab und zu setzt du dich hin und spielst dieses alte Stück von Chopin.« Er lachte. »Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, daß es vergessen bleiben würde.« Sein Lächeln erlosch sofort. »Entschuldige. Ich wollte nicht schnoddrig sein.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Ihr Blick fiel auf die Fotografien, die auf dem Klavier standen. Unter ihnen waren drei Gruppenaufnahmen von Kindern, die nach Größe in Reih und Glied aufgestellt waren und dem Fotografen zu Gefallen strahlend in die Kamera lächelten. Auf der kleinen Tafel, die einer der Jungen in der vorderen Reihe hielt, stand Arlington Private School. Zweifellos war unter diesen Kindern ihre Tochter.
»Weißt du, welche es ist?« fragte Michael, der anscheinend wieder einmal ihre Gedanken erraten hatte, und trat hinter sie. Sie fühlte seinen warmen Atem in ihrem Nacken.
Jane nahm einer der Aufnahmen zur Hand. Ihr Blick flog über die Lausbubengesichter der kleinen Jungen hinweg, um sich auf die strebsamer wirkenden kleinen Mädchen zu konzentrieren. Würde sie ihr Kind erkennen?
»Sie ist die zweite von links«, sagte Michael, ihrer Qual ein Ende bereitend. Er deutete auf ein zartes kleines Mädchen mit langem braunen Haar und großen Augen. Sie war ganz in Gelb gekleidet und schien ungefähr drei oder vier Jahre alt zu sein. »Das war im Kindergarten«, fuhr er fort. »Sie war damals vier.« Er nahm das nächste Foto, zeigte auf dasselbe kleine Mädchen, das diesmal in Rosa und Weiß gekleidet war und einen Pferdeschwanz trug. »Das war in der Vorschule.«
»Sie ist groß«, bemerkte Jane und hörte, wie brüchig ihre Stimme klang.
»Ja, sie muß immer in der letzten Reihe stehen. Hat sich nicht viel verändert seit unserer Kindheit.«
Sie nahm das dritte und letzte Bild, entdeckte diesmal ohne Mühe ihre Tochter, ganz in Schwarzweiß, mit offenem Haar, das Lächeln nicht mehr ganz so strahlend wie in den Jahren zuvor, der Blick eher befangen und scheu. Mein Kind, dachte Jane, aber sie fühlte nichts. Die sechsjährige Emily Whittaker war nichts weiter als eines von mehreren niedlichen kleinen Mädchen auf einem Klassenfoto. Die Erkenntnis trieb ihr die Tränen in die Augen.
»Wo ist das Foto von diesem Jahr?« fragte sie.
»Was?« Seine Stimme klang überrascht, beinahe erschrocken.
»Müßte nicht noch ein Bild da sein? Du hast doch gesagt, sie ist sieben. Da muß sie jetzt in der zweiten Klasse sein.«
»Ja, das stimmt, sie hat gerade die zweite Klasse beendet.« Sein Blick flog zu den Fotos auf dem Klavier. »Wir haben dieses Jahr anscheinend kein Klassenfoto bekommen«, sagte er langsam und nachdenklich. »Vielleicht war sie an dem Tag aus irgendeinem Grund nicht in der Schule.« Er zuckte die Achseln und nahm dann eine Fotografie zur Hand, die Emily bei einer Nikolausfeier zeigte. Jane bemerkte, daß seine Hand zitterte. »Das wurde vor ein paar Jahren aufgenommen. Und das hier«, fuhr er fort, als er ihr eine in Silber gerahmte Aufnahme reichte, »stammt vom vergangenen Juni.«
Jane starrte in die lächelnden Gesichter der drei Fremden: ihr Mann, ihre Tochter und sie selbst. Sie begann so heftig zu zittern, daß Michael ihr das Bild aus der Hand nahm und sie vom Klavier wegführte.
»Möchtest du dich hinlegen?« fragte er besorgt.
Das Angebot war verlockend, aber sie schüttelte den Kopf. »Zeig mir lieber den Rest des Hauses.«
Er legte ihr den Arm um die Taille und führte sie aus dem Wohnzimmer durch den Flur in den rückwärtigen Teil des Hauses.
Sie kamen an einer Toilette und eine Reihe Einbauschränke vorüber, ehe sie die Küche erreichten, einen großen, sonnigen Raum mit Blick auf den Garten. Hier war alles weiß: ein runder weißer Tisch mit vier Stühlen; ein weiß gefliester Boden; weiß gestrichene Wände. Farbe lieferten einzig die grünen Bäume draußen und die bunten handgemalten Kacheln über dem Spülbecken
Weitere Kostenlose Bücher