Lauf, Jane, Lauf!
stillsitzen. Michael lief zu ihr und kniete vor ihr nieder.
»Was ist, Jane?«
»Das, was Carole eben sagte«, erklärte Jane. Die Worte sprudelten ihr so hastig über die Lippen, daß sie kaum noch kenntlich waren und sie eine Pause einlegen, sich ein paar Sekunden Zeit nehmen mußte, um ihre Gedanken zu formulieren und dann von neuem zu beginnen. »Als ich im Lennox Hotel war und nicht wußte, was ich mit mir anfangen sollte, dachte ich plötzlich, >Im Zweifel erst mal was essen<. Es war so ähnlich, als hörte ich eine Stimme, die mir das sagte. Und ich überlegte, woher ich diesen Spruch hatte.«
»Mein Vermächtnis«, bemerkte Carole selbstironisch.
»Das ist ja großartig!« rief Michael und streichelte Jane behutsam den Kopf. »Das heißt doch, daß alles noch da drinnen ist, fest eingesperrt zur sicheren Aufbewahrung. Wir brauchen nur den richtigen Schlüssel zu finden.«
Jane lächelte zustimmend, beschwingt von plötzlicher Zuversicht.
»Okay, dann lauf ich schnell rüber und mach euch was zu essen zurecht«, sagte Carole.
»Für mich bitte nicht«, wehrte Michael ab. »Ich könnte jetzt keinen Bissen runterkriegen.«
»Ich auch nicht«, sagte Jane. Sie war zwar hungrig, aber zum Essen viel zu aufgeregt.
»Aber trotzdem vielen Dank«, fuhr Michael fort. »Es war nett von dir, es anzubieten.«
»Na, ihr könnt mich ja anrufen, wenn ihr es euch doch noch anders überlegen solltet. Zu essen hab ich immer genug im Haus.« Sie lachte, hart und ohne Heiterkeit. »Meine Kinder langen bei jeder Mahlzeit zu, als wären sie kurz vor dem Verhungern, und mein Vater gehört auch nicht zu den Leuten, denen im Alter der Appetit vergeht, ganz zu schweigen von unserem Köter, der sich einbildet, ein Mensch zu sein, und nur das frißt, was er uns essen sieht. Na ja, ich sollte mich wahrscheinlich nicht beklagen, wenigstens sind alle gesund, und die Kinder fahren ja demnächst ab ins Ferienlager. Also, wenn ihr später doch Hunger bekommen solltet, dann meldet euch.«
»Das werden wir tun.« Michael stand auf und ging zur Tür.
Carole nahm Janes Hand in die ihre und senkte die Stimme. »Du bist in guten Händen«, versicherte sie. »Du könntest dir keinen besseren Mann wünschen.« Sie kämpfte gegen plötzlich aufsteigende Tränen. »Es wird bestimmt alles wieder gut werden, Jane. Verlaß dich einfach auf Michael.«
Jane blieb reglos auf dem Sofa sitzen, während Carole mit Michael in den Flur hinausging.
»Du rufst an, wenn du mich brauchen solltest?« hörte sie Carole fragen, ehe die Haustür geschlossen wurde.
»Sie scheint sehr nett zu sein«, sagte sie, als Michael ins Wohnzimmer zurückkam.
»Ja, das ist sie.«
»Es ist sicher nicht einfach für sie, die Kinder und ihren alten Vater versorgen zu müssen.«
»Ja, sie hat’s nicht leicht, ständig zwischen diesen beiden Polen jonglieren zu müssen.««
Jane nickte. Ihr fiel eine Episode aus einer Serie ein, die genau das zum Thema gehabt hatte - das Leben von Frauen, die, zwischen den Forderungen ihrer Kinder und den Bedürfnissen ihrer alten Eltern hin- und hergerissen, kaum zu sich selbst kamen. Gehörte auch sie zu diesen Frauen?
Ihr Vater war gestorben, als sie dreizehn Jahre alt gewesen war, hatte Michael ihr im Krankenhaus erzählt. Aber was war mit ihrer Mutter? Lebte sie noch in Connecticut, oder war sie vielleicht in die Gegend von Boston gezogen, um ihrer einzigen Tochter näher zu sein? Oder vielleicht hatte sie das sonnige Kalifornien vorgezogen, und Sohn Tommy war derjenige, der in der Zwickmühle zwischen Familie und Mutter saß.
Ja, so mußte es sein, sagte sie sich. Hätte ihre Mutter irgendwo in der Gegend gelebt, so hätte Michael bestimmt sie hergebeten und nicht Carole Bishop.
»Lebt meine Mutter noch in Connecticut?« fragte sie.
Doch Michael, der sich in einen Sessel gesetzt hatte, antwortete nicht, sondern starrte gedankenverloren zum Fenster hinaus.
»Michael?« sagte sie in der Annahme, er hätte sie nicht gehört. »Lebt meine Mutter noch in Connecticut?«
Er schüttelte den Kopf und drückte die gefalteten Hände an den Mund.
»Michael?«
Da erst sah er sie an, und sie begriff augenblicklich, daß ihre Mutter tot war. Dennoch fand sie es notwendig, die Worte auszusprechen. »Meine Mutter ist tot, nicht wahr?«
Er nickte. »Ja.««
»Wann ist sie gestorben?«
»Letztes Jahr.«
»Wie alt war sie?«
»Dreiundsechzig.«
»Das ist aber jung«, bemerkte sie, ohne die Spur einer inneren Verbundenheit zu dieser
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