Lauf, Jane, Lauf!
die Bücherregale voll medizinischer Fachbücher zu konzentrieren.
»Erraten.«
Jane strich mit der Hand über das feingemaserte Holz seines Schreibtischs. Auf der einen Seite stand ein Computer, dessen großer schwarzer Bildschirm sie anstarrte wie ein Gesicht, dem erst noch Züge gegeben werden mußten. Die Tastatur war fast ganz versteckt unter einem auseinandergefallenen Stapel loser Blätter. Unter einem aufgeschlagen daliegenden Fachbuch sah ein silberner Kugelschreiber hervor.
»Du steckst wohl mitten in einer Arbeit?«
»Ja, ich muß im Herbst bei einem Medizinerkongreß einen Vortrag halten und bin dabei, ein bißchen Ordnung in meine Gedanken zu bringen.«
»Eine schöne Hilfe bin ich dir. Geh ausgerechnet jetzt völlig aus dem Leim.«
»Hauptsache, du bist bei mir. Das ist mir Hilfe genug.««
Sie versuchte, im Spiegel des schwarzen Bildschirms sein Gesicht zu erkennen. »Bist du immer so nett?«
Sein Bild verschwand aus ihrem Blickfeld. Sie spürte die flüchtige Berührung seines Arms und sah ihn, als sie den Kopf drehte, neben sich stehen und zum Fenster hinaussehen.
»Aha!« sagte er. »Jetzt hat sie es doch geschafft, ihn ins Haus zu lotsen.«
Jane wandte sich dem Fenster zu und sah gerade noch, wie Carole Bishop ihren Vater und den Hund durch die offene Haustür schob, um sie dann mit Wucht zuzuschlagen. Ihre Kinder standen immer noch lachend draußen auf dem Gehweg.
»Die Frage war ernst gemeint«, sagte Jane zu Michael und hätte über die Verwirrung auf seinem Gesicht beinahe gelacht.
»Welche Frage?«
»Ob du immer so nett bist.« Sie wartete auf seine Antwort.
»Na, sagen wir mal, ich hab meine netten Momente.«
»Viele nette Momente, wie mir scheint.«
»Es ist nicht schwer, nett zu dir zu sein«, sagte er einfach.
»Hoffentlich ist das wahr.«
»Warum sollte es nicht wahr sein?«
Sie tat so, als wäre sie ganz gefesselt von Andrew und Celine Bishop, die jetzt ihren Beobachtungsposten vor dem Haus ihrer Mutter aufgaben und immer noch lachend die Straße hinunterrannten. »Wo ist Emilys Zimmer?« fragte sie, nachdem die beiden um die Ecke verschwunden waren.
»Neben unserem.«
Sie folgte ihm durch den Flur, an einem freundlichen gelbweißen Badezimmer vorbei zu zwei weiteren Räumen, die links von der Treppe lagen.
»Hatten wir einen Innenarchitekten?« fragte sie beiläufig, angetan von der heiteren Wärme, die alle Räume ausstrahlten.
»Eine ganz phantastische Innenarchitektin«, bestätigte er. »Sie heißt Jane Whittaker.«
Jane lächelte, voll törichten Stolzes auf ihr Werk, auch wenn sie sich nicht daran erinnern konnte, es geschaffen zu haben.
»Das ist Emilys Zimmer.« Er folgte ihr hinein, blieb aber an der Tür stehen. »Ist es nicht schön?«
Jane sah sich aufmerksam um: eine frische weißgrundige Tapete mit einem grünen Rankenmuster; ein Messingbett mit einer weißen Überdecke aus Baumwollspitze; ein Wäschekorb in Gestalt eines großen Känguruhs; Stofftiere und Puppen überall; ein kleiner Tisch mit Stühlen vor dem Fenster, das auf den Garten hinuntersah; eine Buntglasscheibe ähnlich der im Gästezimmer; auf dem Boden der gleiche blaßgrüne Teppich wie in den übrigen Räumen des Hauses. An der Wand gegenüber vom Bett hingen mehrere gerahmte Drucke impressionistischer Gemälde von Monet, Renoir und Degas.
»Und das ist unser Zimmer.« Michael lotste sie so geschickt aus dem Kinderzimmer in ihr gemeinsames Schlafzimmer, daß sie sich des Wechsels kaum bewußt wurde.
Zaghaft betrat sie das Zimmer, plötzlich sehr bedacht darauf, dem Mann, dessen Bett sie elf Jahre lang geteilt hatte, nicht zu nahe zu kommen. Es war ein wohltuend ruhiger Raum in matten Grün- und Lilatönen. Das breite Himmelbett stand in der Mitte, rechts war das große Fenster, links ein langer Wandschrank mit Spiegeltüren, die das Grün des Gartens hereinholten, so daß man den Eindruck hatte, sich in einem Raum ohne Grenzen und Mauern zu befinden.
Jane fand es unmöglich, ihrem Spiegelbild auszuweichen. Obwohl sie sich anstrengte, sich ganz auf die Chagall-Lithographien zu konzentrieren, die die Wand gegenüber dem Bett schmückten, kehrte ihr Blick immer wieder zu den Spiegeln zurück.
»Was siehst du?« fragte Michael unerwartet, und sie sah sich zusammenzucken.
»Ein verängstigtes kleines Mädchen«, antwortete sie. Sie versuchte, sich ihrem Spiegelbild zu stellen, aber sie konnte es nicht. Beinahe zornig zog sie sämtliche Türen des langen Schranks auf und entledigte
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