Lauf, Jane, Lauf!
Frau zu fühlen, die sie geboren hatte und nun tot war.
»Ja«, stimmte er ihr zu.
»Woran ist sie gestorben? Hatte sie Krebs? Oder einen Schlaganfall?«
»Nein.«
»Woran dann?« Von einer diffusen Angst getrieben, rutschte sie zur Kante des Sofas vor.
Er zögerte nur kurz. »Sie hatte einen Unfall.«
»Was für einen Unfall?«
»Einen Autounfall«, wiederholte sie und dachte an den Unfall, den sie auf der Heimfahrt gesehen hatte, erinnerte sich des merkwürdigen Blicks, mit dem Michael sie angesehen hatte, als warte er auf ein Zeichen der Erinnerung von ihr, als versuche er, ihre Reaktion abzuschätzen. »Erzähl es mir.«
Er wandte sich ihr ganz zu, ehe er begann. »Deine Mutter war ein paar Wochen bei uns zu Besuch. Wir wollten sie eigentlich überreden, nach Boston zu ziehen, aber sie wollte nichts davon wissen. Sie behauptete, ihr Bridge-Klub in Hartford könnte sie nicht entbehren, und basta. Ende der Diskussion. Wenn man mit deiner Mutter debattierte, konnte man nie gewinnen.« Er lächelte flüchtig bei der Erinnerung. »Kurz und gut, eines Nachmittags wollte sie nach Boston hineinfahren, um noch ein paar Dinge einzukaufen, ehe sie wieder nach Hause fuhr, und du -« Er brach ab und begann von neuem. »Du hattest an dem Tag mit Emily zu tun, ich glaube, es ging um irgendein Schulprojekt...«« Wieder verstummte er und setzte ein drittes Mal neu an. »Sie nahm deinen Wagen...««
»Meinen Honda?« Jane sah vor sich den silbergrauen Prelude, der in der Garage stand.
»Nein. Du hattest einen Volvo. Einen dunkelgrünen«, erläuterte er, ohne daß sie danach zu fragen brauchte. »Sie nahm deinen Wagen und fuhr los.« Wieder hielt er inne, nicht willens oder vielleicht auch nicht fähig, gleich fortzufahren. Jane war nicht sicher, ob er ihr oder sich selbst den Schmerz dessen, was kommen mußte, ersparen wollte.
»Weiter.«
»Es passierte gar nicht weit von hier. Sie war noch nicht einmal
auf dem Highway. Irgend so ein Kerl überfuhr ein Stoppschild und brauste mit achtzig Sachen in ihren Wagen hinein. Sie war sofort tot.««
Er stand aus seinem Sessel auf und kam zu ihr. Sie sah, daß seine Augen feucht waren.
Ihr selbst schossen die Tränen in die Augen, aber nicht Tränen des Schmerzes, sondern des Zorns und der Frustration. Wie konnte sie etwas so Tiefgreifendes wie den Tod ihrer Mutter vergessen? Wieso ergriff die schlimme Geschichte, die Michael ihr eben erzählt hatte, sie überhaupt nicht?
Genau wie zuvor, als er vom Tod ihres Vaters gesprochen hatte, empfand sie nicht mehr als eine flüchtige Traurigkeit, wie man sie empfindet, wenn man vom Tod eines Freundes erfährt, zu dem man vor langer Zeit den Kontakt verloren hat.
»Habe ich mich mit meiner Mutter gut verstanden?«
Er nickte. »Du warst untröstlich nach ihrem Tod.«
Jane sprang plötzlich auf. »Ach, verdammt! Warum kann ich mich nicht erinnern?«
»Das wird schon kommen, Jane«, versicherte er, bemüht, sie zu beruhigen. »Wenn es an der Zeit ist...«
»Du hattest Angst davor, mir das zu erzählen«, sagte sie herausfordernd. »Warum?«
»Ich fürchtete, es würde dich aufregen.«
»Nein, das war es nicht. Bitte, sag mir die Wahrheit.«
Er sah zum Flur hinüber, als hoffte er, Carole Bishop würde wieder erscheinen, um ihm zu helfen. »Der Unfall«, sagte er stockend. »Er geschah vor fast genau einem Jahr.«
»Was willst du damit sagen? Glaubst du, der Jahrestag des Todes meiner Mutter könnte die Amnesie ausgelöst haben?«
»Ich halte es jedenfalls für eine Möglichkeit, ja. Du warst sehr erregt; du konntest nicht schlafen; du warst rastlos und unruhig. Das war der Grund, weshalb ich dir vorschlug, für ein paar Tage wegzufahren und deinen Bruder zu besuchen.«
Sie ließ sich das durch den Kopf gehen. Michael fand diese Erklärung offenbar einleuchtend. Der Jahrestag des Todes ihrer Mutter hatte bevorgestanden; sie war erregt und unruhig gewesen, mit der Erinnerung nicht fertiggeworden und hatte sich schließlich einfach ins Vergessen gerettet. Perfekt. Nur erklärte es nicht die Blutflecken auf ihrem Kleid und nicht die geldgefüllten Manteltaschen. Sie war plötzlich unglaublich müde.
»Ich glaube, du brauchst jetzt erst mal Ruhe«, sagte Michael fürsorglich. »Komm«, drängte er sanft, »ich pack dich ins Bett, hm?«
8
Er führte sie die Treppe hinauf zu ihrem Schlafzimmer.
Unter dem riesigen Oberlicht blieb sie stehen und blickte zum immer noch sonnigen Himmel hinauf. Dann sah sie auf ihre Uhr. Es war
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