Lauf, Jane, Lauf!
gleich
wieder nach vorn, rieb mit einem Finger über den Porzellansokkel der Nachttischlampe, als glaubte sie, Aladins Wunderlampe vor sich zu haben.
Sie meinte, Michael die Treppe heraufkommen zu hören, aber als sie zur Tür blickte, sah sie niemanden. Sie stand auf, setzte sich wieder, richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf den Nachttisch. Sie überlegte, ob sie den Wecker stellen, die Lampe einschalten, telefonieren sollte, und zog schließlich, nur um irgend etwas zu tun, die obere Schublade des Nachttischs auf.
Sie sah es sofort und wußte auf Anhieb, was es war. Alle privaten Telefonbücher haben eine gewisse Ähnlichkeit. Dieses hier hatte die Größe eines Schulheftes und einen Stoffeinband mit Paisleymuster. Sie nahm es langsam heraus und kam sich dabei vor wie ein Hausgast, der heimlich schnüffelt. Sie legte es auf ihren Schoß und ließ es mehrere Sekunden ungeöffnet, ehe sie den Mut fand, einen Blick hineinzuwerfen. Nun stell dich doch nicht so an, sagte sie sich ungeduldig. Es ist doch dein Buch. Klapp es auf. Was ist denn los mit dir? Wovor hast du Angst? Es ist doch nichts weiter als ein Verzeichnis von Namen. Namen, die nichts bedeuten, sagte sie sich, während sie das Buch unter >A< aufschlug. >Lorraine Appleby<, las sie und erinnerte sich, daß Michael sie ihr als eine ihrer Freundinnen genannt hatte. >Arlington Private School<, stand direkt darunter. Arlington Private School? Natürlich! Emilys Schule. Na bitte, ist doch ganz einfach, sagte sie sich mutiger werdend und blätterte zu B, wo sie auf den Namen >Diane Brewster< stieß. Das mußte die andere Freundin sein, die Diane, deren Nachnamen sich Michael nicht merken konnte. Rasch hatte sie auch die anderen Namen gefunden, die er aufgezählt hatte: David und Susan Carney; Janet und Ian Hart; Eve und Ross McDermott; Howard und Peggy Rose; Sarah und Peter Tanenbaum. Alle waren sie da, schwarz auf weiß in alphabetischer Ordnung.
Sie fand einen Eintrag für ihren Bruder, Tommy Lawrence,
Montgomery Street, San Diego, und merkte, wie ihre Hände zu zittern begannen, als sie noch einmal zu >R< blätterte.
Sie hatte ihn beim ersten Mal nicht gesehen, wieso also erwartete sie, ihn jetzt zu finden? Dennoch las sie die ganze Seite aufmerksam von oben bis unten, ohne Howard und Peggy Rose, die, wie sie sich erinnerte, in Südfrankreich Ferien machten, weitere Beachtung zu schenken. Die anderen Namen, die hier aufgeschrieben waren, kannte sie nicht. Sicherheitshalber sah sie auch noch unter >Q< und >S< nach, es hätte ja sein können, daß sie den Namen auf der falschen Seite eingetragen hatte, aber sie fand ihn nirgends. Wer immer Pat Rutherford war, er oder sie war allenfalls eine oberflächliche Bekanntschaft, nicht einmal bedeutsam genug, um in ihrem privaten Telefonbuch Platz zu finden.
Sie blätterte noch in dem Buch, als Michael zurückkam.
»Na, was Interessantes entdeckt?« fragte er und stellte das Tablett mit zwei Tassen Tee und einem Teller Kekse auf den kleinen runden Tisch beim Fenster.
Jane legte das Buch in die Schublade zurück und stand auf, um sich zu ihm an den Tisch zu setzen. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und nahm dankbar die Tasse entgegen, die er ihr reichte.
»Vielleicht sollte ich meinen Bruder anrufen«, sagte sie, nachdem die den ersten Schluck Tee getrunken hatte. »Er macht sich doch sicher Sorgen.«
»Das hab ich schon erledigt. Ich habe mit ihm gesprochen und ihm gesagt, daß alles in Ordnung ist. Es reicht, wenn du ihn morgen anrufst«, sagte er, und sie lächelte erleichtert. Sie fühlte sich noch gar nicht imstande, mit jemandem zu sprechen. Was hätte sie diesem Bruder, den sie nicht kannte und der am anderen Ende des Landes lebte, schon sagen können? >Es geht uns prächtig - schade, daß du nicht hier bist >Schade, daß ich nicht weiß, wer du bist<, wäre angemessener. Und würde ihn das nicht nur noch mehr beunruhigen, wenn er, wie sie vermutete, schon beunruhigt
genug war? Nein, sie würde mit dem Anruf bei ihrem Bruder warten, bis sie sich wieder erinnerte, wer sie war. Und wenn er in der Zwischenzeit anrufen sollte, würde sie so tun, als kenne sie ihn. Sie würde einfach fabulieren.
»Der Tee schmeckt gut«, sagte sie und dachte, als sie sein Lächeln sah, wie leicht es war, ihn glücklich zu machen.
»Spezialität des Hauses. Hier, nimm die.« Er reichte ihr zwei kleine weiße Tabletten.
»Was ist das?«
»Ein leichtes Sedativum.«
»Ein Sedativum? Wozu? Ich habe keine
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