Lauf, Jane, Lauf!
Zimmer drehte sich; sie schwankte so heftig, daß sie zu stürzen fürchtete. Ihr Kopf erschien ihr ungeheuer schwer, ein Riesengewicht, das ihr gebrechlicher Körper kaum tragen konnte. Nieder mit Jane Whittaker, dachte sie, und ließ sich wieder auf das Bett zurückfallen.
Beide Hände auf die Bettkante gestützt, saß sie da und sah zu den Spiegeln hinüber. »Jane Whittaker«, sagte sie feierlich zu ihren schwankenden Spiegelbildern. »Wer zum Teufel bist du?«
Die Spiegelbilder schwankten noch stärker und entzogen sich ihrem Blick, als eine Welle von Schwindel und Übelkeit sie wieder in die Kissen zurückwarf. »Immer langsam voran«, ermahnte sie sich, wohl wissend, daß sie sonst überhaupt nicht auf die Beine kommen würde.
Sie stellte sich ein Gespinst von Spinnweben vor, das von der einen Seite ihres Gehirns zur anderen reichte, und sah sich mit
der Hand in das Bild greifen, um sie alle wegzufegen. Aber sie wurden augenblicklich durch neue Spinnweben ersetzt, und ganz gleich, wie oft sie versuchte, sie wegzureißen, das Resultat war immer das gleiche.
Sie schüttelte den Kopf, als könne sie durch diesen Akt des Trotzes die Spinnweben zerreißen und sich von ihnen befreien, aber ihr wurde nur schwindlig, und sie mußte rasch die Augen schließen, um nicht ohnmächtig zu werden. Sie hatte den Eindruck, daß ihr Kopf völlig gefühllos war, betäubt, erstarrt. Er fühlte sich ungeheuer groß und weit an, mit giftigem Gas gefüllt, in Gefahr zu explodieren.
Mit geschlossenen Augen versuchte sie, Bestandsaufnahme zu machen: Ich bin in Jane Whittakers Haus, schlafe in Jane Whittakers Bett, Jane Whittakers Mann ist gleich nebenan, und das ist auch ganz in Ordnung so, weil ich selbst nämlich Jane Whittaker bin.
Sie hatte schließlich Beweise genug dafür. Michael hatte ihr ihren Paß und die Heiratsurkunde gezeigt. Sie hatte sich selbst auf den Familienfotos auf dem Klavier erkannt. Sie hatte sogar auf dem Klavier geklimpert, verdammt noch mal. Was für Beweise brauchte sie denn noch?
Gut, okay, sie war also Jane Whittaker, und Michael Whittaker, der gutaussehende und renommierte Kinderchirurg, war ihr liebender und treusorgender Ehemann. Sie hatte eine niedliche kleine Tochter, ein schönes Haus und massenhaft Freunde. Wieso fühlte sie sich angesichts all dieser erfreulichen Tatsachen plötzlich so deprimiert? Warum hätte sie sich am liebsten irgendwo verkrochen, um zu sterben?
Mit Schaudern erinnerte sie sich ihres Traums. Vor Schlangen hatte ihr immer gegraut. Sie rieb sich die Arme und spürte wieder den Einstich der Nadel, die unversehens ihre Haut durchbohrte. In der Erwartung, Michael an ihrem Bett zu finden, öffnete sie die Augen. Aber es war niemand da.
Er hatte ihr traumlosen Schlaf versprochen, und er hatte Wort gehalten. Sie war von Alpträumen verschont geblieben. Sie hatte tief geschlafen, ohne ein einziges Mal zu erwachen. Wieso fühlte sie sich so mies? Wieso hatte sie das Gefühl, ihr Kopf sei völlig zubetoniert?
Sie blickte zum Wecker auf dem Nachttisch und schaffte es mit Mühe, die Ziffern zu erkennen. »Zehn nach zehn!« rief sie ungläubig. Hatte sie tatsächlich mehr als zwölf Stunden geschlafen?
Sie nahm die Uhr und hielt sie sich dicht vor die Augen. Ja, es war eindeutig zehn nach zehn. Du lieber Himmel, der halbe Morgen futsch, dachte sie, fest entschlossen, sofort aufzustehen. Warum ich? fragte sie sich, als ihr bei dem Versuch aufzustehen der Fußboden entgegenzukommen schien. Hastig streckte sie den Arm aus. Ihre Hand stieß gegen etwas Kaltes, Glattes, das sie an eine Eisfläche erinnerte. Als sie den Blick hob, sah sie sich ihrem eigenen Bild gegenüber. Ihre rechte Hand deckte sich mit der im Spiegel, als wäre die Fremde im Spiegel ihr zu Hilfe gekommen und halte sie aufrecht.
Wo ist Michael? fragte sie sich, während sie ins Badezimmer wankte und sich auf die Toilette fallen ließ. Nicht einmal die Tür hatte sie geschlossen. Und wenn er jetzt hereinkam? Würde er in Verlegenheit geraten? Oder sie? Gehörten sie zu den Leuten, die immer peinlich darauf achteten, die Badezimmertür hinter sich zu schließen, oder ließen sie ungeniert alles offen, ohne sich darum zu kümmern, wer sie sah? Sie wußte es nicht; sie war zu benebelt, um sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen. Sie würde es wahrscheinlich nicht einmal bemerken, wenn Michael jetzt hereinkommen sollte.
Aber es wunderte sie doch, daß er noch nicht gekommen war. Sie hatte damit gerechnet, ihn zu
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