Lauf, Jane, Lauf!
Jane Whittaker. Lauf, Jane, lauf, dachte sie, während sie geduckt die Straße hinunter hastete, den Oberkörper so tief, daß ihre Finger fast das Pflaster berührten, einem Affen ähnlicher als einem menschlichen Wesen.
An der Walnut Street wandte sie sich nach Norden, ohne sich eine Verschnaufpause zu gönnen. Sie wußte, wenn sie jetzt anhielt, und sei es nur für ein paar Sekunden, würde alle Kraft sie verlassen, und sie würde sich einfach hier an der Straße zusammenrollen und einschlafen. Sie konnte sich keine Rast leisten.
Sie hörte Autos vorbeifahren und dachte flüchtig daran, eines anzuhalten. Würde überhaupt jemand anhalten? Sie bezweifelte es angesichts des besorgten Blicks, den eine Frau ihr im Vorüberfahren zuwarf. Kein Wunder. Alltäglich war der Anblick gewiß nicht, wie sie da ganz in Rosarot schwitzend und schnaufend im Affengalopp die Straße hinunterlief. Was ich jetzt brauche, ist ein Taxi, dachte sie und versuchte, mit den Zehen die Steinchen oder was immer es war, das in ihrem rechten Schuh herumrollte,
wegzuschieben. Nur habe ich im Gegensatz zu meinem letzten spektakulären Fluchtversuch diesmal kein Geld mitgenommen. Sie griff in ihre Hosentaschen. Nichts. Weit und breit kein Hundert-Dollar-Schein zu sehen.
Jetzt blieb sie doch stehen. Wenn sie schon dazu verdammt war, zu Fuß zu gehen, dann wenigstens bequem. Natürlich nur relativ betrachtet, sagte sie sich, während sie ihren rechten Schuh auszog und ausschüttete. Zwei kleine weiße Tabletten fielen heraus. Ihre Tabletten, die Tabletten, die Michael und Paula ihr täglich eingaben, die Tabletten, die sie versteckt hatte. Sie bückte sich und hob sie auf, blieb auf den Asphalt gestützt einen Moment in der Hocke, bis sie die Kraft fand, sich wieder aufzurichten. Dann steckte sie die Tabletten in die Hosentasche und ging weiter, bis ihr plötzlich einfiel, daß Paula vielleicht beschlossen hatte, mit dem Auto nach ihr zu fahnden. Hastig suchte sie Schutz hinter einer Reihe von Bäumen.
Mehrere Straßenecken weiter sah sie eine breite, belebte Straße, die wie eine Hauptstraße aussah. Wenn sie es bis dahin schaffte... was dann? Was wollte sie tun? Zur Polizei gehen? Um ihnen was zu erzählen? Daß sie geflohen war, weil ihr Mann vorhatte, sie in eine Anstalt einweisen zu lassen?
Ihr Mann? Dieser allseits geschätzte Wohltäter der Menschheit, der heilige Michael?
So heilig wie er aussieht, ist er gar nicht.
Wenn jemand wie ein Heiliger aussieht und wie ein Heiliger handelt...
Aber er hat mich belogen. Er hat sie alle belogen.
Heilige lügen nicht.
Er hat mich unter Drogen gesetzt.
So was tun Heilige nicht.
Ich wollte sie nicht nehmen...
Sie brauchten nur nein zu sagen!
»Nein!« rief Jane laut, die nun die scheinbar allgegenwärtige
Beacon Street erreicht hatte. Ein Fußgänger, durch ihren Schrei auf sie aufmerksam geworden, wechselte prompt zur anderen Straßenseite hinüber, um ihr aus dem Weg zu gehen. Nein, du kannst nicht zur Polizei gehen. Schau dich doch an. Wie du aussiehst! Die würden dir nie glauben.
Es gab gar nichts zu glauben.
Wie konnte sie denn beweisen, daß man ihr Böses wollte? Sie konnte sich ja nicht einmal erinnern, wer sie war! Die Bullen würden tief beeindruckt sein. Das Wort einer Hysterikerin mit einem Loch im Hirn gegen das Wort eines allgemein anerkannten Heiligen? Schau der Realität ins Auge. Schau, daß du wegkommst.
Das hab ich doch versucht. Es hat nichts gebracht.
Sie starrte das Schild mehrere Sekunden lang an, ehe ihr seine Bedeutung aufging. Apotheke, stand da in großen blaugoldenen Lettern. Wie von selbst trugen ihre Füße sie zur Tür. Sie mußte ausweichen, um einem herauskommenden Kunden Platz zu machen, ehe sie den Laden betreten konnte. Drinnen spürte sie den kalten Luftzug der Klimaanlage auf ihrer schweißfeuchten Haut und fröstelte. Sie fühlte sich plötzlich sehr schwach und benommen und betete, daß sie es bis zum Ladentisch schaffen würde, ohne ohnmächtig zu werden.
»Ja, bitte?« fragte der Mann hinter der erhöhten Theke und blickte über den Rand seiner Brille zu ihr hinunter. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte er erschrocken.
»Gibt es hier vielleicht irgendwo einen Stuhl?«
Schon im nächsten Moment saß sie auf dem Boden, die Beine lang von sich ausgestreckt, die Arme schlaff an den Seiten herabhängend, ein Ständer mit Erkältungsmitteln stützte ihr den Rükken. Der Apotheker kam hinter dem Ladentisch hervor und kniete neben ihr nieder, tätschelte
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