Lauf, Jane, Lauf!
weggestellt, als sie zur Tür gegangen war, um zu öffnen. Michael hatte genug Zeit gehabt, ihr etwas ins Glas zu tun, während sie Sarah und Peter begrüßt hatte. Hatte er das wirklich getan? O Gott, hatte er das wirklich getan?
»Sarah, du mußt mir helfen...« Jane hörte die Worte, als kämen sie aus dem Mund einer anderen Person. Sie sah sich zu Boden rutschen und zusammenfallen. Sie sah Michael und Paula, Peter und Sarah zu ihr stürzen. Michael hob sie auf und trug sie die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Sarah und Peter folgten ihm.
»Verdammt noch mal, Michael, wirst du mir jetzt endlich sagen, was eigentlich los ist?« fragte Sarah zornig.
Jane versuchte, die Augen zu öffnen, aber es war beinahe so, als hätte man sie ihr zugeklebt. Sie strengte sich an, bei Bewußtsein zu bleiben, hörte jemanden weinen, erkannte, daß es Michael war.
»Ich wollte, ich wüßte es«, sagte er mit mühsam verhaltenem Schluchzen. »Ihr habt ja keine Ahnung, was sich hier abspielt...«
»Dann sag es uns.«
»Jane hat einen völligen Zusammenbruch.« Seine Stimme war heiser, ungläubig.
»Das gibt ’ s doch nicht!«
Trotz geschlossener Augen spürte Jane, daß alle sie ansahen.
»Sie weiß nicht mehr, wer sie ist; sie sagt, sie kann sich an unser gemeinsames Leben nicht erinnern...«
»Das ist ja absurd! An uns hat sie sich doch auch erinnert.«
»Nein, nein, nicht richtig«, widersprach Sarah ihm. »Von Hitler zum Beispiel wußte sie gar nichts mehr. Das hat man gemerkt. Ich hab ’ s jedenfalls gemerkt.«
Und was merkst du noch? fragte Jane stumm und flehte Sarah hinter geschlossenen Augen an, ihr zu Hilfe zu kommen.
»Und heute nachmittag am Telefon war sie auch schon so merkwürdig. Gleich als ich heute abend zur Tür hereinkam, habe ich gesehen, daß mit ihr etwas nicht stimmt. Bekommt sie irgendwelche Medikamente?«
»Der Arzt hat ihr ein leichtes Beruhigungsmittel verschrieben, aber sie weigert sich, es zu nehmen. Sie behauptet, sie fühlt sich dann nur schlecht. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll«, fuhr Michael fort. »Ihr habt keine Ahnung, wie das ist. Sie ist völlig unberechenbar. Ihre Stimmungen wechseln blitzschnell. Morgens ist sie lammfromm, und am Nachmittag fährt sie durchs Haus wie eine Wahnsinnige, reißt sämtliche Kleider aus den Schränken und trampelt auf ihnen herum. Ich weiß nie, was sie als nächstes tun wird.«
»Wie lange geht das schon so?«
»Mindestens einen Monat.«
»In Kalifornien war es auch so?«
»Sie war nie in Kalifornien.«
Jane hörte Sarahs Ausruf der Überraschung.
»Eigentlich geht es schon viel länger als einen Monat. Seit dem Unfall ist sie völlig verändert. Es war wahrscheinlich vermessen zu hoffen...«
»Aber sie schien das doch sehr gut verarbeitet zu haben. Es gab nie Anzeichen dafür...«
»In der Öffentlichkeit nicht, nein. Da hat sie sich immer sehr zusammengenommen. Vielleicht war die Anstrengung zuviel für sie. Eines Tages ist sie jedenfalls einfach auf und davon gelaufen. Hysterische Amnesie, nennen es die Ärzte.«
»Das kann doch nicht wahr sein.«
»Aber das wird sich doch wieder geben, nicht wahr?«
»Die Ärzte meinten, es würde rasch besser werden, aber es wird immer nur schlimmer. Heute nachmittag hat sie Paula sogar mit dem Messer bedroht.«
»Was?!«
»Um Gottes willen!«
»Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Was ist, wenn sie das nächste Mal so etwas tut und dabei tatsächlich jemanden verletzt? Oder sich selbst etwas antut?«
»Das würde sie nicht tun.«
»Kann ich das Risiko eingehen?«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß schon nicht einmal mehr, was ich sage. Ich bin völlig am Ende. Sie ist oft so tief deprimiert, aber sie will sich von mir nicht helfen lassen. Und ich habe jedesmal, wenn ich aus dem Haus gehe, Todesangst, daß sie vielleicht nicht mehr da ist, wenn ich zurückkomme, oder daß sie versucht... ach, ich möchte es nicht einmal denken.«
»Jane ist nicht der Mensch, der sich das Leben nehmen würde«, erklärte Sarah mit Entschiedenheit.
»War das heute abend beim Essen die Jane, die du kennst?« fragte er.
Die Frage brachte sie zum Schweigen, und es blieb einen Moment ganz still.
»Wenn es nicht bald besser wird«, sagte Michael schwer atmend mit leiser Stimme, »muß ich mich vielleicht mit dem Gedanken vertraut machen, sie einweisen zu lassen.«
»Michael, nein!«
»Was bleibt mir denn anderes übrig? Sag du mir, was ich tun soll, Sarah. Ich bin mit
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