Lauf, so schnell du kannst
kämpfte. Ihre Hände waren wie unbeholfene Eisklumpen, von dem Wasser so kalt geworden, dass sie sie kaum fühlen konnte. Aber zumindest würde die Kälte jede Blutung verlangsamen, und das Wasser würde den Geruch ihres Blutes wegwaschen.
Überlebe!
Sie würde überleben. Was auch geschah. Das versprach sie sich selbst.
Und kroch weiter.
Aus einem Moment wurde ein anderer. Jeder schlammige Zentimeter war ein Sieg. Jeder Atemzug, den sie nahm, konnte als Erfolg gerechnet werden.
Dieser Mistkerl Chad Krugman würde sie jedenfalls
nicht
kriegen.
Bei jedem Blitz hob sie den Kopf und sah sich um, versuchte, den Überblick über ihre Richtung und ihr Vorankommen zu behalten. Sie hielt Ausschau nach Schwierigkeiten oder Hindernissen, die vor ihr lagen, denn ohne die Blitze und ohne ihre Taschenlampe, die sie nicht einzuschalten wagte, bewegte sie sich buchstäblich blind vorwärts. Außerdem hielt sie nach Bewegungen Ausschau, nach grundsätzlich jeder Art von Bewegung, aber speziell nach Krugman oder dem Bären. Bisher hatte sie jedoch nur Bäume gesehen, die wild im Wind peitschten.
Blitze kamen nicht auf Kommando, daher gab es Zeiten, da sie einfach innehalten und auf den nächsten Blitz warten musste, um zu sehen, was vor ihr lag, bevor sie sich wieder weiterbewegen konnte.
Allmählich wurde ihr bewusst, wie gut getarnt sie war. Solange sie nichts tat, um ihre Position zu verraten – wie das Einschalten ihrer Taschenlampe –, würde Chad sie wahrscheinlich nicht sehen können. Sie war von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt und kroch so dicht am Boden, dass sie praktisch zu einem Teil der Landschaft geworden war. Der Schlamm und das Wasser sollten außerdem ihren Geruch verbergen, zumindest bis zu einem gewissen Grad, und sie vor dem empfindlichen Geruchssinn des Bären beschützen.
Entsetzen konnte nur für eine begrenzte Zeit aufrechterhalten werden; es kostete zu viel Energie. Nach einer Weile verdrängte es der Körper und konzentrierte sich stattdessen auf das Alltägliche, und genau das tat Angie jetzt: Ihre Welt verengte sich auf jeden Zentimeter, den sie weiterkroch, und darauf, wie diese Zentimeter zu Schritten und die Schritte zu Metern wurden. Irgendwann würde sie ihr Ziel erreichen. Alles, was sie tun musste, war
nicht aufzugeben
.
Für eine Weile war sie so langsam vorangekommen, dass es sie entmutigt hätte, wenn sie sich gestattet hätte, darüber nachzudenken, also tat sie es nicht. Ihr größter Vorteil war ihr Überlebenswille. Sie würde es durchstehen. Sie würde den Sturm, die Kälte und den Schmerz überleben. Ihr verletzter Knöchel, ob er nun verstaucht oder gebrochen war, würde für sich genommen nicht tödlich sein, aber er konnte verdammt sicher zu ihrem Tod beitragen, wenn entweder der Bär oder Krugman ihren Weg kreuzten. Sie hatte sich noch nie so verwundbar gefühlt, und dieses Gefühl gefiel ihr ebensowenig wie der körperliche Schmerz.
Sie bemühte sich, zu einem Teil der Erde zu werden, den Schlamm und die Dunkelheit zu benutzen, um sich unsichtbar zu machen.
Nach einer unbekannten Zeitspanne – einer Stunde, einem Leben – zog das wilde Herz des Sturms also endgültig weiter. Der Regen dauerte an, war aber nicht mehr so stark, er schwächte sich von einem regelrechten Beschuss zu einem bloßen Regenguss ab. Es war zwar ein Gewinn, nicht mehr jede Sekunde fürchten zu müssen, dass sie von einem Blitz gebraten wurde, aber das Ausbleiben der Blitze bedeutete auch, dass sie sich keine Navigationspunkte mehr aussuchen konnte –
kriech zu diesem Busch, dann zu jenem Fels
–, und sie musste sich allein an ihrem Tastsinn orientieren. Unglücklicherweise hatte sie in ihren Händen kaum noch Gefühl. Ihr Tempo verlangsamte sich von einem buchstäblichen Kriechen zu quälender Langsamkeit.
Ohne die grellen Blitze, die alles in scharfem Schwarz-Weiß erhellten und alles andere auslöschten, erregte der kleine Lichtpunkt zu ihrer Linken sofort ihre Aufmerksamkeit. Sie erstarrte, rührte keinen Muskel und verschmolz mit der Erde.
Krugman.
Niemand sonst würde bei diesem Gewitter mit einer Taschenlampe draußen sein. Er suchte nach ihr.
Ein Gefühl von Unwirklichkeit überkam sie. Sie wusste nicht, ob sie beleidigt oder erleichtert sein sollte, dass er sie offensichtlich nicht als eine Art von Bedrohung betrachtete. Er konnte nicht wissen, dass sie verletzt war, konnte nicht wissen, dass ihr Gewehr so schlammverkrustet war, dass es nutzlos war, und trotzdem war er da
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