Lauf, so schnell du kannst
von dem Bären umgebracht worden war, solange sie nur kein Problem mehr darstellte.
Es war auch möglich, dass sie sich an ihn heranpirschte, während er sich an sie heranpirschte. Er stellte sich vor, wie sie ihn beobachtete, wie sie langsam das Gewehr hob, durch das Zielfernrohr schaute … als Gejagter erlebte man nicht gerade den gleichen Rausch wie als Jäger. Sie konnte hinter ihm sein, links, rechts … sie konnte in einem dieser Zelte hocken, konnte ihn beobachten und darauf warten, dass er sich zeigte. Sein Herz begann noch schneller zu schlagen. Er umfasste die Pistole fester. Wenn sie ihn gesehen hätte, hätte sie bereits geschossen … oder nicht? Eines war gewiss; er konnte nicht hier stehen bleiben, bis es wieder Nacht wurde, und auf Inspiration oder Glück warten.
Langsam schlich er um das Lager herum, den Blick auf Angies Zelt geheftet. Zum ersten Mal seit Stunden vergaß er sein körperliches Elend, vergaß, dass er fror und nass und hungrig war. Sein ganzes Unbehagen wurde in einer berauschenden Mischung aus Angst und Erregung fortgespült. Es war unmöglich, beides voneinander zu trennen und zu sagen, was ihn zwang, schneller zu atmen – und was seinen Magen tanzen ließ.
Schließlich stand er direkt hinter Angies Zelt und lauschte. Stille. Wenn sie im Zelt war, rührte sie sich nicht. Sie konnte eingeschlafen sein. Vielleicht war sie erschöpft, weil sie die ganze Nacht aufgeblieben war und auf ihn gewartet hatte, der arme Schatz. Wie hätte es ihr gefallen, die ganze Nacht mit vier Pferden unter einem Felsvorhang festzusitzen, nass bis auf die Knochen, und zu versuchen, die Tiere zu beruhigen, deren Körperwärme das Einzige war, das sie vor dem Erfrieren bewahrte? Ein beinahe grausames Gefühl von Erwartung erfasste ihn; er wollte sie leiden lassen, so wie er gelitten hatte.
Er schätzte, dass er am verwundbarsten war, während er den Zelteingang aufzog. Er würde in der Hocke sein, eine Hand beschäftigt, und das Geräusch könnte sie wecken – nein, Moment. Er dachte nicht klar. Der Reißverschluss würde von innen gesichert sein. Wenn sie da war, würde er den Eingang nicht aufziehen können, andererseits würde er dann aber mit Bestimmtheit wissen, dass sie da drin war, denn Zelte zogen sich nicht selbst zu.
Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Jubel. Er mochte in diesem Wildnisscheiß nicht so gut sein wie sie, aber er würde sie austricksen. Er hatte sein ganzes Leben hindurch jeden ausgetrickst, weil jeder von ihm erwartete, dass er ein dummer Idiot war. Warum sollte sie anders sein?
Vorsichtig, einen langsamen Schritt nach dem anderen, schlich er um das Zelt herum, bis er den Eingang sehen konnte.
Der Reißverschluss war nicht zugezogen. Die Eingangstür hing offen.
Ihm blieb fast das Herz stehen. Hatte sie ihn kommen hören und das Zelt verlassen, bevor er nahe genug herangekommen war, um das ganze Lager einzusehen? Oder war sie trotzdem dort drinnen, nur außer Sichtweite, der Eingang offen, damit sie ihn sehen konnte und …
Er musste sich beruhigen, zu seinem früheren Gedanken zurückkehren: Wenn sie die Gelegenheit hatte zu schießen, warum hätte sie das nicht bereits getan? Er war Buchhalter; er war ein logisch denkender Mensch, und er war des schlussfolgernden Denkens durchaus fähig. Wenn sie in der Lage gewesen wäre zu schießen, dann wäre er jetzt bereits tot. Er war aber nicht tot, daher war sie nicht in der Lage zu schießen.
Trotz zitternder Knie ermutigt, steckte er schnell den Kopf ins Zelt. Es war leer.
Okay. In Ordnung. Sie war nicht da. War sie so clever, sich in
seinem
Zelt zu verstecken, weil sie dachte, dass er nicht auf den Gedanken kommen würde, dort nach ihr zu suchen? Nein, sie hatte wissen müssen, dass er in sein eigenes Zelt gehen würde, um sich trockene Kleidung und einen Regenmantel zu holen. Das würde es zu dem perfekten Abfangpunkt machen, oder? Wenn sie im Camp war, dann war für sie der geeignetste und für ihn der gefährlichste Platz sein eigenes Zelt.
Er richtete sich vor Angies Zelt auf und warf einen weiteren Blick auf das stille Lager. Scheiß drauf. Er brauchte trockene Sachen. Er ging zu seinem Zelt, und seine Füße sanken noch tiefer in den Morast; in dieser Richtung war der Boden stärker verschlammt.
Er tat das Gleiche wie zuvor, stand da, lauschte eine gefühlte Ewigkeit lang und hörte nichts aus dem Inneren des Zeltes. Er nahm all seinen Mut zusammen und schaute schnell in sein eigenes Zelt hinein. Keine Angie.
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