Lauf, wenn du kannst
was ich gesehen habe, und das war nun einmal ein Mann, der seine Frau und sein Kind mit einer Waffe bedroht. Ich bin kein Mörder, verdammt. Ich musste ihn töten!«
Elizabeth sagte noch immer nichts. Sie hielt das Schweigen einfach aus.
»Was wäre, wenn ich mich nicht so schnell entschieden und stattdessen tatenlos zugeschaut hätte? Er hätte seine Frau erschießen können. Und seinen Sohn ebenfalls. Und das wäre dann auch meine Schuld gewesen. Egal, ob man schießt oder nicht, man ist immer der Idiot. In dieser Situation konnte ich nicht gewinnen. Woher zum Teufel hätte ich wissen sollen, was richtig war?
Er drohte mit der Pistole. Er hatte seine Frau direkt im Visier. Und dazu noch sein Gesichtsausdruck. Diesen Ausdruck kenne ich. O mein Gott, den habe ich schon so oft gesehen, und ich habe es so satt, dass Menschen einander wehtun. Sie können sich das viele Blut gar nicht vorstellen ... Sie haben ja keine Ahnung ...«
Bobbys Stimme erstarb, und seine Schultern zuckten in gewaltigen, trockenen Schluchzern. Im nächsten Moment wandte er sich, peinlich berührt von seinem Gefühlsausbruch, von Elizabeth ab und klammerte sich Halt suchend an die Stuhllehne.
Elizabeth rührte sich nicht von der Stelle und machte auch keine Anstalten, auf ihn zuzugehen. Sie saß nur da und beobachtete, wie er von heftigen Gefühlen geschüttelt wurde. Es war wichtig für ihn. Nach sechsunddreißig Jahren war es längst überfällig, dass er auch einmal Schwäche zeigte.
Schließlich wischte Bobby sich die Augen ab und trocknete seine Wangen hastig mit dem Handrücken.
»Ich bin müde«, stieß er, halb entschuldigend, halb als Ausflucht, hervor.
»Ich weiß.«
»Ich muss unbedingt schlafen.«
»Richtig.«
»Morgen wird ein langer Tag.«
»Es ist nicht gut, dass Sie ausgerechnet jetzt wichtige Entscheidungen treffen«, wandte sie unverblümt ein.
Er lachte auf. »Meinen Sie, dass das Richter Gagnon interessiert?«
»Können Sie sich der Situation nicht entziehen, Bobby, und ein wenig Abstand gewinnen?«
»Nicht, solange die Staatsanwaltschaft offiziell gegen mich ermittelt. Außerdem ist momentan einfach zu viel los.«
»Also gut, Bobby, dann setzen Sie sich wieder. Denn bevor Sie gehen, müssen wir noch ein Thema behandeln. Wir müssen ehrlich über Catherine Gagnon sprechen.«
Catherine und Nathan standen in der Halle des Ritz. Obwohl sie wusste, dass es sicher merkwürdig wirkte, wenn eine Frau mit einem kleinen Kind und ohne Gepäck sich um diese Uhrzeit in einem Hotel einmietete, kümmerte sie das nicht. Nathan bebte in ihren Armen wie Espenlaub, und die Angst stand ihm deutlich in sein bleiches Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen geschrieben. Wieder Bauchspeicheldrüsenentzündung, schoss es ihr durch den Kopf. Oder eine Infektion, oder Schmerzen in der Brust oder sonst irgendeine Krankheit. Mit seiner Gesundheit ging es stets rapide bergab, wenn er sich unter Druck gesetzt fühlte.
Sie nestelte an ihrer Handtasche und versuchte, sie auf der Theke abzustellen, während sie Nathan weiter in den Armen hielt. Schließlich erschien der Empfangschef, überrascht, zu dieser späten Stunde jemanden zu sehen. »Ma’am?«
»Ich hätte gerne ein Zimmer. Nichtraucher. Welches, ist mir gleichgültig.«
Der Mann zog zwar eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Stattdessen betätigte er ein paar Computertasten und verkündete, es sei ein Zimmer frei. Doppelbett, Nichtraucher. Ob sie ein Kinderbettchen brauche?
Catherine lehnte ab, bat aber um eine Zahnbürste, Zahnpasta und drei zusätzliche Lampen. Das Aussehen sei egal, irgendwelche Lampen eben.
Catherine zückte ihre Kreditkarte, und der Hotelangestellte zog sie durch das Lesegerät.
»Äh ... könnte ich einen Ausweis sehen?«
Catherine streichelte Nathans Rücken, um den zitternden Jungen zu beruhigen. »Verzeihung?«
»Einen Ausweis. Den Führerschein vielleicht. Nur aus Sicherheitsgründen.«
Catherine war zwar ein wenig verdattert, kramte aber gehorsam in ihrer Tasche und reichte dem Mann ihren Führerschein. Der Hotelangestellte blickte eine Ewigkeit zwischen dem Foto und ihr hin und her.
»Ma’am, wussten Sie, dass diese Kreditkarte als gestohlen gemeldet worden ist?«
»Was?«
»Ma’am, ich kann die Karte nicht annehmen.«
Catherine starrte ihn an, als verstünde sie kein Englisch. Sie wollte ein Zimmer. Ein schönes Zimmer in einem eleganten Hotel, wo ihr nichts Schreckliches zustoßen konnte. Umgeben von Seidenvorhängen und
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