Lauf, wenn du kannst
Versuch hatte er den gewünschten Teilnehmer erreicht.
»Wir haben einen Nathan Gagnon auf der Intensivstation«, beantwortete eine Krankenschwester seine Frage. »Er wurde gestern Nacht eingeliefert.«
»Wie geht es ihm?«
»Tja, normalerweise legen wir Gesunde nicht auf die Intensivstation.« Die Schwester wollte offenbar komisch sein. »Ich meine, wie ist sein Zustand? Ich bin bei der Staatspolizei von Massachusetts.« Bobby ratterte seine Dienstnummer herunter.
»Ernst, aber stabil«, erwiderte die Schwester.
»Bauchspeicheldrüsenentzündung«, erinnerte sich Bobby. »Ist das lebensbedrohlich?«
»Kann sein.«
»Und in diesem Fall?«
»Da müssen Sie mit seinem Kinderarzt sprechen. Dr. Rocco.«
Bobby notierte den Namen. »War der Junge schon öfter bei Ihnen?«
»Ein paar Mal. Aber Sie sollen wirklich mit Dr. Rocco reden, Officer.«
»Schon gut. Nur noch eine Frage, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Offenbar überlegte die Schwester und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass sie nichts dagegen hatte. »Und die wäre?«
»Wurde der Junge je wegen anderer Beschwerden eingeliefert? Sie wissen schon, Knochenbrüche, unerklärliche Blutergüsse?«
»Meinen Sie, ob er häufig die Treppe runtergefallen ist?«, erkundigte die Frau sich spöttisch.
»Genau. Wie kommt er denn so mit Treppen zurecht?«
»Zwei Knochenbrüche in den letzten zwölf Monaten. Den Rest können Sie sich ja denken.«
»Zwei Knochenbrüche in den letzten zwölf Monaten«, wiederholte Bobby leise. »Nicht zu fassen. Danke, Sie haben mir sehr geholfen.« Er legte auf.
Die Gelben Seiten offen auf dem Schoß, saß Bobby auf der Stuhlkante. Der Schweiß tropfte ihm von der Nase und auf das dünne Papier. Wieder spürte er die tiefe, schlammige Dunkelheit in sich. Und er dachte sich, dass es da etwas gab, was er heute noch lieber tun würde, als zu schlafen oder sogar mit Susan zu sprechen, nämlich auf einen Schießstand zu gehen und irgendetwas zu Klump zu schießen.
Was sagte das wohl über ihn aus?
Ein kluger Mann hätte die Begegnung mit Catherine Gagnon vergessen. Schließlich hatte er nur seine Pflicht als Polizist getan. Jetzt war es an der Zeit, das Kapitel abzuhaken und sich neuen Aufgaben zuzuwenden.
Selbstverständlich hätte sich ein kluger Mann auch nicht mit einer Frau wie Catherine in einem öffentlichen Museum getroffen. Und außerdem zerbrach sich ein kluger Mann nicht den Kopf über einen kleinen Jungen, den er kaum kannte.
Bobby klappte die Gelben Seiten zu.
»Dr. Rocco«, sagte er sich und ging erst einmal in aller Ruhe duschen.
9
Bobbys Mobiltelefon läutete, während er das Haus verließ. In Boston verzichtete Bobby lieber auf sein Auto, denn allein schon die Parkgebühren hätten ihn in den Ruin getrieben. Außerdem fehlte ihm, wie er sich eingestehen musste, der Mut, sich ohne Blaulicht in den Verkehr zu stürzen. Als er deshalb mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern zur Bushaltestelle ging, fühlte er sich so auffällig wie einer der gesuchten Schwerverbrecher in einer Fernseh-Fahndungssendung.
Ein Glück, dass Jimmy Gagnon ein Weißer gewesen war, dachte Bobby. Sonst hätte er sich nämlich gar nicht mehr vor die Tür wagen können.
Wieder piepste sein Telefon. Argwöhnisch klappte er es auf, und der Wind verwehte seine Stimme, als er sich meldete.
»Ja?«
»Bobby? Gott sei Dank. Ich versuche schon seit gestern Nacht, dich zu erreichen.«
»Hallo, Pop.« Bobby war – zumindest ein bisschen – erleichtert. Er ging weiter; seine Beine legten die sechs Häuserblocks zur Bushaltestelle zurück. »Ich habe dich heute Morgen angerufen, bin aber leider nicht durchgekommen.«
»Ich musste den Hörer von der Gabel nehmen. Die verdammten Reporter haben mir einfach keine Ruhe gelassen.«
»Tut mir leid.«
»Ich habe denen nichts gesagt. Elende Mistkerle.« Bobbys Vater verabscheute Journalisten fast ebenso wie Präsidenten, die der demokratischen Partei angehörten. »Alles okay bei dir? Du wirst doch wegen der Geschichte keine Schwierigkeiten bekommen?«
»Ich arbeite daran.«
»Bei vollem Gehalt vom Dienst suspendiert?«
»Bis die Ergebnisse der Staatsanwaltschaft vorliegen.«
»Ich habe mich ein bisschen umgehört«, meinte Pop. Vor langer, langer Zeit war Bobbys Vater einmal unter seinem richtigen Namen Larry bekannt gewesen. Doch dann hatte er eine Werkstatt für Waffenreparaturen eröffnet, um seine Rente aufzubessern. Viele seiner Kunden waren Kollegen von Bobby und hatten
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