Lauf, wenn du kannst
Fürsorge«, murmelte die Blondine und zog die Augenbraue hoch.
»Mein Sohn ist sehr krank und muss von einem Experten behandelt werden. Und in der Welt der Medizin kommt man eben nur durch Vermittlung eines Facharztes an einen anderen Facharzt heran. Wenn ich Dr. Iorfino selbst angerufen hätte, wäre ich auf einer Warteliste gelandet. Aber Tony hat uns sofort einen Termin besorgt. Vielleicht ist er im Privatleben nicht gerade ein Moralapostel, aber er ist ein ausgezeichneter Arzt und hat sich sehr gut um meinen Sohn gekümmert.«
»Für mich klingt das, als würde Sie ihn immer noch lieben.«
»Ich habe meinen Mann geliebt.«
»Obwohl er Sie als menschlichen Sandsack benutzt hat? Auch als er Sie mit einer Waffe bedrohte? Meiner Ansicht nach haben Sie sich ziemlich verbessert, Mrs Gagnon. Denn jetzt gehören das Haus, das Auto und die Bankkonten Ihnen, ohne dass Sie sich weiter mit Jimmy als Ballast herumplagen müssten.« In den Augen der Blondine stand ein aufmerksames Funkeln. »Und außerdem wirft Ihnen jetzt niemand mehr vor, Sie würden Ihren Sohn misshandeln. Sie sind aus dem Schneider.« Catherine stand auf. »Raus.«
»Sie wissen, dass wir mit Prudence sprechen werden. Und mit ihrer Vorgängerin und deren Vorgängerin. Wir werden alles zurückverfolgen, bis wir jeden Vorfall in diesem Haus bis in die kleinste Kleinigkeit kennen.«
»Raus.«
»Und wir werden mit Nathan reden.«
Catherine wies mit dem Finger auf die Tür. Endlich erhoben sich die drei. »Ein Jammer, das mit Dr. Rocco«, merkte die Blondine beiläufig an, als sie die Vorhalle mit dem Marmorfußboden durchquerten. »Vor allem für seine Frau und seine Kinder.«
»Was ist mit Tony?«
»Ach so, ja, der ist tot. Wurde gestern Nacht ermordet. Im Krankenhaus.« Die Blondine blieb stehen und musterte eindringlich Catherines Gesicht. Ausnahmsweise gab Catherine sich keine Mühe, ihre Reaktion zu verbergen. Sie war ehrlich entsetzt. Wie vor den Kopf geschlagen. Im nächsten Moment wurde sie von Angst ergriffen.
»Wie?«, fragte sie leise.
»Buh!«, murmelte die Blondine. Catherine erstarrte.
Die Ermittlungsbeamten verließen das Haus. Auf der Schwelle blieb der Staatsanwalt noch einmal stehen.
»Wissen Sie, was Schmauchspuren sind?«, meinte Copley.
»Nein.«
»Die Spuren, die an Händen und Kleidung zurückbleiben, wenn jemand eine Waffe abfeuert. Dreimal dürfen Sie raten, was wir bei Ihrem Mann nicht gefunden haben.«
Catherine schwieg. Buh!, dachte sie entgeistert. Buh!
Das Trio ging die Vortreppe hinunter. »Ein Fehler«, rief Copley, über die Schulter gewandt. »Mehr brauche ich nicht. Ein kleiner Fehler, Mrs Gagnon, dann gehören Sie mir.«
18
Sonntagmorgen. Die Sonne schien, und die trocken-kalte Luft kündigte den Winter an. Die meisten Fußgänger in Boston hasteten, die Köpfe in die Falten ihrer Schals geduckt wie Schildkröten und die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, von einem überteuerten Laden zum nächsten. Nicht Mr Bosu. Ohne Mantel, Mütze und Handschuhe schlenderte er zwischen den prachtvollen alten Bäumen des Public Garden dahin. Er liebte dieses Wetter. Den Duft des faulenden Laubs. Den letzten Hauch der verblassenden Wintersonne.
Als Kind war das seine Lieblingsjahreszeit gewesen. Bis lange nach Dunkelwerden hatte er draußen gespielt. Seine Eltern hatte das nicht gekümmert. Frische Luft ist gut für den Jungen, pflegte sein Vater zu sagen, bevor er sich wieder hinter der Tageszeitung verkroch.
Eigentlich keine schlechte Kindheit. Er konnte nicht klagen. Mr Bosu hatte liebevolle Erinnerungen an G.-I.-Joe-Plastikfigürchen und Spielzeug-Zementmischmaschinen. Er kurvte auf seinem Fahrrad herum und spielte mit den anderen Kindern. Es gab sogar Kindergeburtstage im goldfarben ausgestatteten Wohnzimmer seiner Mutter, geschmückt mit den kleinen orangefarbenen und gelben Blümchen, die damals als so reizend galten. Er hatte gehört, dass dieser Stil nun wieder in Mode kam. Retro. So nannte man das. So lange war Mr Bosu im Gefängnis gewesen, dass seine Kindheit inzwischen wieder modern war.
Was, so fragte er sich, würde wohl geschehen, wenn er nach Hause zurückkehrte? Wahrscheinlich wohnten seine Eltern noch in demselben Haus und in derselben Straße. Vermutlich fuhren sie sogar noch dasselbe Auto. Was nicht kaputt ist, braucht man nicht zu reparieren, lautete der Standardspruch von Mr Bosu senior.
Sie hatten Mr Bosu nicht im Gefängnis besucht. Kein einziges Mal. Nach dem Tag, an dem das
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