Laufend loslassen
ein, verstaue das noch feuchte T-Shirt mit einer Sicherheitsnadel und einer Schnur auf dem Rucksack und verlasse den Platz ohne Bedauern. Überraschenderweise komme ich gut voran und in wenig mehr als zwei Stunden, also kurz nach eins, komme ich in Les Halles an der Straße D 489 an. Einer verwunderten Angestellten im Bürgermeisteramt kann ich klarmachen, dass ich einen Stempel im Pilgerpass brauche. Ein Café gibt es auch und damit mein schon fast zur Tradition gewordenes Stärkungsmittel. Vorher habe ich mich noch fein gemacht, das verschwitzte T-Shirt aus- und das frisch gewaschene angezogen, das immer noch einen leicht kühlenden Effekt hat. Meine Stimmung hat sich merklich aufgehellt, da es im Ort auch Brot zu kaufen gibt.
Der Tag hat wirklich noch die Chance, der schönste in meinem Leben zu werden. Wenn nur die dauernden Schmerzen in meinem rechten Fußballen nicht wären.
Was ich jetzt merke, wo nicht mehr die ganze Energie auf das Vorwärtskämpfen verwendet werden muss, ist, welche Freude und Anregung es für mich bedeutet, so frei zu sein. Nicht zu wissen, was kommt und wo ich abends sein werde. Ich laufe in einem sehr positiven Sinn „planlos.“. Natürlich will ich Santiago erreichen. Aber innerhalb dieses großen Planes lasse ich mir völlige Freiheit. Ich schaue mir kein mögliches Tagesziel an, denke nicht im Mindesten daran, ein Quartier vorher festzulegen, schon gar nicht, es telefonisch vorzubestellen, wie es immer wieder in den Führern und Reisebeschreibungen empfohlen wird. Die darin liegende Unsicherheit empfinde ich nicht als belastend, sondern ganz im Gegenteil als ungeheuer befreiend.
Was ich auch lerne: die Dinge zu nutzen, die der Weg bietet. Da hält einmal ein Buswartehäuschen als Umkleidekabine her, ein andermal dient das Waschbecken in der Café-Toilette als Wasch- und Rasiergelegenheit. Ich schmunzele nur noch, wenn ich daran denke, dass ich mir daheim allen Ernstes überlegt habe, ob ich nicht einen kleinen Taschenspiegel zum Kämmen und Rasieren mitnehmen soll. Die Welt wimmelt von Spiegeln. Jedes Auto hat mindestens zwei, jedes Café, viele Läden. Ich lerne, dass ich nicht alles selbst besitzen muss, was ich brauche.
Eine andere Beobachtung mache ich auch: Ich achte auf die Natur, die wechselnden Wildblumen am Weg. Mohn und Kornblumen, Margeriten, Johanniskraut, leuchtend gelb. Im Wald viel Fingerhut. Die Gerstenfelder beginnen sich an günstigen Stellen schon leicht gelblich zu verfärben, während der Mais erst bleistifthoch aus der Erde schaut.
Nach einer Stunde in Les Halles geht es weiter. Ich finde die Fortsetzung des Weges ziemlich leicht, obgleich jede GR-7-Beschilderung fehlt. Jetzt laufe ich eben nach der Karte, und die zeigt den GR 7 genau da, wo ich bin. Ein Bauer, den ich frage, bestätigt es mir auch: „Oui, oui, le GR 7.“ Als ich dann beim Hof Bravarel in eine Sackgasse laufe, zeigt der Hausherr wort- und hilfreich den richtigen Weg und erzählt, dass immer wieder Wanderer zu ihm kommen, weil die Beschilderung so schlecht sei. „GR 7?.“, frage ich. „No, GR 8.“
Na gut, dann laufe ich eben den GR 8, Hauptsache, er führt dahin, wo ich hinwill.
Gegen fünf Uhr taucht Meys auf. Ich nutze den kleinen Umweg in den Ort, um wieder Wasser aufzufüllen. Früh bin ich zwei Stunden gelaufen, ohne etwas zu trinken, aber nachmittags bei zunehmender Schwüle schwitze ich wie wild und trinke entsprechend mehr. Es tut mir gut, öfter einen Mundvoll Wasser zu nehmen als gleich viel auf einmal. Auch einen Charantekäse nehme ich mit, der sich am Abend als sehr fein und cremig erweisen wird. Auf die Hügel zurückgekehrt - sie erinnern mich ein wenig an die Umgebung von Taizé — versperrt mir ein Viehtrieb den Weg. Ich frage den Bauern nach der Richtung Viricelles und ob es in Chazelles einen Campingplatz gibt. Den Weg beschreibt er mir genau und zutreffend, aber die genaue Lage des Campingplatzes bleibt im Ungewissen, was sowohl an der Beschreibung liegen mag als auch daran, dass ich nur ein Drittel verstehe.
Oh hätte ich doch der französischen Sprache in meiner Schulzeit mehr Liebe entgegengebracht!
Jetzt kommt die späte Strafe.
Viricelles ist ein hübscher Ort und ich wäre gerne dort geblieben, wenn es wenigstens eine Auberge gegeben hätte. Die hätte ich mir heute geleistet, um wenigstens wieder einmal in einem Bett zu schlafen.
Ein Pizza-Verkaufswagen führt mich in große Versuchung; aber es gibt nur ganze Pizzas, und die kann ich beim
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