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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Mall
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Markierung nicht mit meiner Karte überein, brauche ich etwas Zeit, um mich zu orientieren. Ich entscheide mich für die Karte und steige und steige. Endlich ist Lamure erreicht, wo ein freundlicher Bewohner mir die Wasserflasche neu auffüllt und erzählt, dass er auch schon Teile des Jakobsweges gegangen sei, zwischen Le Puy und Conques. Im August will er die Fortsetzung laufen.
    Er empfiehlt mir, in Le Puy einen Tag Pause zu machen und mir die Stadt anzusehen. Sie sei es wert. Es geht weiter bergauf, bis kurz unterhalb der höchsten Erhebung, 945 Meter hoch, also Hochrhön-Format. Trotz der Hitze komme ich noch gut voran und staune über mich. Immerhin waren es bis hier fast 450 Meter Höhenunterschied heute. Endlich finde ich die Markierung des GR 7 wieder, der ich bis kurz vor St. Christo en Jarez folge.
     
    Es ist 19 Uhr und Zeit für eine Übernachtungsmöglichkeit. Verschwitzt wie ich bin, möchte ich auf keinen Fall im Zelt ohne Waschmöglichkeit übernachten. Im Ort frage ich nach einer Auberge. Mehrere Männer diskutieren eine Zeit lang, wovon ich so gut wie nichts verstehe, dann werde ich mit einem Jungen losgeschickt, wohl um den Bürgermeister zu suchen. Da er nicht zu finden ist, setzt wieder die Diskussion ein. Eine ältere Frau bittet mich schließlich in ihre Wohnung, bewirtet mich mit Fruchtsaft und Salzgebäck. Wir unterhalten uns über das Wandern und das Pilgern. „Mancher beginnt als Wanderer den Weg.“, meint sie, „und endet als Pilger.“ Es ist wahr. Auch ich spüre die transformierende Wirkung des Wegs immer deutlicher, es ist viel mehr als das Sammeln von Eindrücken in einer schönen Landschaft.
     
    Mir wird klar, dass gewartet wird, bis der Bürgermeister kommt. Als er schließlich auftaucht, packt die freundliche Frau mir noch Wurst, Brot, Quark und Schokolade für das Abendessen ein. Verblüfft und dankbar verlasse ich sie und folge dem Bürgermeister einige Straßen weiter zu einem alten Gebäude, das von den Judokas des Ortes als Trainingshalle genutzt wird. Überall Sportmatratzen auf dem Boden und eine dicke Matratze, die mir als Bett dienen soll, so groß wie ein üppiges Doppelbett. Ein Waschbecken und einen Tisch finde ich auch. Das Klo ist um die Halle herum, die früher die Dorfschule war. Der Bürgermeister drückt mir den Schlüssel in die Hand, kündigt an, dass morgen etwa um acht Uhr jemand käme, damit ich in den neuen Sporträumen duschen kann, weist noch daraufhin, dass die Bäckerei, die gleich in der nächsten Straße ist, ab sieben Uhr geöffnet hat und bittet mich, den Schlüssel bei meiner Abreise im Bürgermeisteramt wieder abzugeben. Er verabschiedet sich und so sitze ich alleine in der Halle von den Ausmaßen eines sehr großen Klassenzimmers und bin überwältigt von so viel Hilfsbereitschaft und Vertrauen. Es ist herrlich, auf einem richtigen Stuhl an einem richtigen Tisch zu sitzen, aufrecht gehen zu können und nicht gebeugt in einem kleinen Zelt herumkrabbeln zu müssen. Die kleinen Dinge bekommen einen neuen Wert. Ein Gefühl großer Dankbarkeit füllt mich aus.
     

Samstag, 9. Juni
    Es ist Wochenende. Auch wenn ich es nicht wüsste, die Herden von Quads und Geländemotorrädern, die auf dem Wanderweg die Pfützen in Schlammlöcher umarbeiten und den feuchten Dreck links und rechts an die Hecken spritzen, wären ein sicheres Zeichen. Egal wie man ausweicht, dreckig wird man immer. Es ist ein heißer Tag und entgegen meinem Vorhaben bin ich erst um zehn Uhr weggekommen, nicht ohne mich vorher vom Bürgermeister gehörig zu verabschieden und meinen Stempel zu holen.
    Der Weg führt ständig abwärts, die gestern mühsam gewonnene Höhe wird heute wieder verloren. Hinter St. Chamond, das sehe ich trotz des Dunstes, geht es noch höher wieder hinauf. Die Hitze und die Schwüle nehmen zu, es regt sich fast kein Lüftchen. Als ich in der Stadt ankomme, bin ich ziemlich fertig.
    Die eineinhalb Liter aus meiner Wasserflasche sind fast weg und ich schleiche dem Stadtzentrum entgegen.
    Vorher kreuze ich noch eine Autobahn, die erste auf meiner Pilgerreise. Aus der Perspektive des Wanderers ist es fast komisch, die beiden Verkehrsströme zu sehen. Es wirkt, als seien die einen auf der Flucht vor genau dem, was die anderen magisch anzieht. Eine schattige Bank bietet mir Rast, noch ehe ich das erste Café gefunden habe.
    Erschöpft bleibe ich fast eine Stunde dort, bis ein leichter Wind aufkommt und mit der Kühlung die Lebensgeister wieder etwas erwachen. Aber

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