Laufend loslassen
die Rückenschmerzen, die mich heute plagen, bleiben.
Während der Rast wird mir klar: Wenn nichts mehr geht, dann geht eben nichts mehr. Da bringt es auch nichts, sich vorwärtszuplagen. Aber wann ist es so weit? Die eigenen Grenzen anzunehmen ist gut, aber schwierig genug. Außerdem nagt in mir dabei auch noch der Zweifel, ob ich mich nicht zu sehr schone und eigentlich doch noch könnte. Denn ich kenne es von mir, immer noch ein wenig Kraft in der Reserve zu haben, die ich nie angreife. Bei meiner Gestalttherapieausbildung hat Urs, mein Lehrtherapeut, mir einmal gesagt: „Du bist viel stärker, als du glaubst.“ Dieser Satz ist mir auch nach über 20 Jahren noch gut in Erinnerung und ich habe das Bild der Situation, in der er gesagt wurde, noch lebendig vor Augen. Aber ich habe ihn in wichtigen Bereichen nicht beherzigt. Auch in der Beziehung zu Edith habe ich mich geschwächt, sie hat so mehr und mehr Verantwortung übernommen, was mich noch weiter geschwächt hat, bis es ihr einfach zu viel wurde. Ich will hier lernen, mich nicht schwächer zu machen als ich bin, allerdings auch nicht stärker. Dazu habe ich ein mehr als 1500 Kilometer langes Betätigungsfeld vor mir.
Zwei Straßenecken weiter finde ich ein Café. Dort fällt mein Blick auf die Pharmacie gegenüber. Deren grüne Lichtreklame zeigt 9/6, 16.10 Uhr, 30 Grad Celsius. Es ist also nicht nur gefühlte Hitze. Etwa 20 Minuten später ziehe ich weiter. Die Industrieanlagen der Stadt machen den Eindruck, als hätte sie ihre wirtschaftlich beste Zeit schon hinter sich. Vor allem die Vorstadtstraßen sind fest in maghrebinischer Hand. Es geht schier endlos, bis der Ort langsam aufhört, allerdings kann ich solange die Schattenseite der Straße benutzen. Fast am Ortsschild finde ich noch einen Brunnen, der zwar kein Trinkwasser führt, aber für eine ausführliche Erfrischung gut ist. Ich mache auch meinen Hut nass. Ständig steigend erreiche ich zwei hübsche Stauseen mit einer künstlichen Kaskade, weiter geht es hinauf nach La Valla en Gier. Ich erreiche den Ort um halb acht, finde aber keine Unterkunft.
Da ich merkwürdigerweise wieder recht fit bin bei der einsetzenden Abendkühle, beschließe ich, noch die acht Kilometer zum Croix de Chaubouret hinaufzulaufen, wenn es geht. Es steigt ständig weiter, immerhin gilt es 1201 Meter über Meereshöhe zu erreichen. St. Chamond liegt nur 375 Meter hoch. Unterwegs lädt mich noch eine Vereinsmannschaft ein, die heute bei einem Sportwettbewerb gewonnen hat. Sie haben eine kleine Feier, ich bekomme Schinkenbaguette, Melone und Wein und werde dies und das über meine Pilgerreise gefragt. Die schwierigste Frage ist, warum ich sie überhaupt unternehme. Meine Antwort ist vorsichtig: „Ich weiß, dass ich etwas in meinem Leben ändern muss, und das will ich finden.“ Nach einer halben Stunde ziehe ich weiter, die Gruppe fährt mit dem Bus nach St. Etienne. Beim weiteren Aufstieg stoße ich wieder auf einen Gedenkstein für einen Widerstandskämpfer, der von der Gestapo am 16. Juni 1944 erschossen worden ist. Es begegnet mir immer wieder und bewegt mich, dass ich unweit von Orten, wo mir Menschen Gutes tun, auf solche Gedenksteine stoße.
Es ist praktisch Nacht, als ich das Croix schließlich erreiche. Im allerletzten Dämmerungslicht suche ich mir eine Wiese zum Übernachten, stolz, heute so viel erreicht zu haben. Wie sich ein Tag, der schleppend beginnt, noch zu einem solchen Ergebnis wandelt, wenn ich meine Kraft ernst nehme!
Sonntag, 10. Juni
Der Tag beginnt gut und bei schönem Wetter. Um 9.4 5 Uhr laufe ich nach Le Bessat, um dort meine Wasserflasche aufzufüllen. Dann führt der GR 7 in den Wald, etwas auf und ab, aber meist auf etwa 1200 Meter. Es ist angenehm kühl und schattig. Dennoch fühle ich mich etwas schlapp. Vielleicht war es gestern doch zu viel. Trotzdem war es gut, in der Abendkühle die Höhe errungen zu haben. Da Sonntag ist, treffe ich auf relativ viele Wanderer. Nach etwa drei Stunden mache ich auf einem Felsbrocken neben dem Weg Rast, zehn Minuten später ist der Col du Grand Bois ou de la République erreicht. Doch plötzlich wird es kühl und ein Gewitterregen fängt an. Anfänglich stelle ich mich unter, aber nachdem es immer nur kurz aufhört und gleich wieder anfängt zu regnen, laufe ich einfach los. Wieder einmal verpasse ich den GR 7, finde ihn schließlich wieder, indem ich einen Holzabfuhrweg, der eher einem Bächlein gleicht, aufwärtssteige. Schuhe und Hose
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