Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Mall
Vom Netzwerk:
Verständnis für die Reaktion dieses Mitpilgers aufzubringen. Ich möchte ihm, falls wir uns wiedertreffen, ohne Ressentiment begegnen können. Wieder einmal klingt in mir das Lied an: „Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich, wandle sie in Weite, Herr, erbarme dich.“
     
    Wir haben heute vor, eine Etappe von 30 Kilometern zu laufen. Es ist noch dunkel, aber schon wenig später fängt es an zu dämmern. Auf einem fast ebenen, breiten Weg laufen wir in die von Feldern umkränzte Landschaft hinaus und halten nicht, bevor die Sonne aufgeht. Dann aber, nach circa eineinhalb Stunden, machen wir Frühstücksrast. Weiter geht es auf Schotterstraßen nach Torres del Rio. Gerne hätten wir dort einen Blick in die Iglesia de Santo Sepulcro geworfen, die der von Eunate ähnelt, doch leider hat sie erst ab neun Uhr auf. Aber eine Stunde warten? Nein! Das geht an einem Tag, an dem ab Mittag Hitze zu erwarten ist, nicht. Später führt der Weg auf und ab, meist gut, manchmal auch steinig, vorbei an Weinbergen und Oliven und abgeernteten Getreidefeldern. Oft ist ein herrlich weiter Blick. Wir kommen an der Eremita de Nuestra Señora de Poyo vorbei, die ich von früheren Reisen kenne. „Zweimal habe ich hier gegenüber auf dem Parkplatz mit dem Wohnwagen übernachtet.“, erzähle ich meinen Weggefährten. Verena fragt mich: „Willst du eine kleine Gedenkminute einlegen?.“ Ja, das habe ich mir gewünscht. Innerlich danke ich ihr für ihr Einfühlungsvermögen. Ein paar Minuten bleiben wir dann auch und unterhalten uns ein wenig mit einem Paar etwa meines Alters aus Hessen, Doris und Hans, deren gelassene und humorvolle Art mir auffällt.
    In der gleichen Weise geht der Weg weiter, immer wieder stoßen wir auf Pilger, die wir vom Sehen kennen. Gegen halb zwölf erreichen wir Viana, wo gleich am Ortsrand ein Rastplatz für die Pilger eingerichtet ist, den ein expressionistisches Bild an einer Hauswand verschönt. Wir essen ordentlich, steigen dann in den Ort hinauf und merken, dass Viana sich in Feststimmung befindet. Stelzengänger, Musikkapellen, Fähnchen überall und die Vorbereitungen zu einem Stiertreiben. Wir ziehen dennoch weiter, weil wir Logroño erreichen wollen, haben uns aber vorher noch in der Hauptstraße bei einem Kaffee gestärkt und ein paar Eindrücke vom festlichen Treiben aufgefangen. Bald ist die Grenze der Provinzen Navarra und Logroño erreicht.
    Wir sind in ein Gespräch über Erziehung, Werte und Grenzen vertieft. Hier ist Verena in ihrem Metier, denn sie ist in verantwortlicher Position in einem großen Kinderhort. Wir reden über Freiräume, die Kinder in der Leistungsgesellschaft brauchen, sprechen darüber, wie unsere eigenen Freiräume früher ausgesehen haben. Wir diskutieren auch über Vorgaben und Rituale, die Kindern Orientierung geben, über Grenzen und die Art, sie einzufordern. Wir stimmen darin überein, dass es Eltern heute zunehmend schwerer gelingt, Kindern die notwendige Orientierung zu geben und loten aus, wie Wertevermittlung gelingen könnte.
    Angeregt durch das Gespräch über gesellschaftliche Grundüberzeugungen stellt uns Dennis ein für ihn wichtiges Buch vor, „Gottes Werk und Teufels Beitrag.“ von John Irving, bei dem es um die Wertediskussion bei der Abtreibung geht. Er macht uns deutlich, wie dieses Buch seine Perspektive bei dieser Frage erweitert hat. Später sprechen wir noch über die Konfliktfälle, die zwischen Patientenwillen und ärztlicher Verantwortung bei Patientenverfügungen entstehen können und über die Gewissensfragen, die dabei entstehen.
    Bald kommt auch die Stelle, wo früher die legendäre Doña Felisa die Pilgerpässe stempelte. Heute tut das ihre auch schon in reiferen Jahren stehende Tochter, der ich einen kleinen Pilgerkürbis abkaufe. Verena erwirbt eine Jakobsmuschel mit dem Santiagokreuz. Jetzt, mit der Kalebasse, ist mein Pilgerstab, der Bambus aus meinem Garten, noch typischer für einen Pilgerstab geworden.
    Wir erreichen die Herberge in Logroño eine Stunde bevor sie öffnet. Verena unterhält sich mit spanischen Pilgern über die neue Jakobsmuschel an ihrem Rucksack und will ihnen etwas über unseren Einkauf bei dieser bekannten Dame am Jakobsweg erzählen. Da sie nicht gleich verstehen, über wen sie spricht, erklärt Verena ihnen: „Es una señora publica.“ Die anderen schauen etwas verwundert, begreifen dann, wer gemeint ist und lachen. Es stellt sich heraus, dass sie unter dieser Bezeichnung eine Prostituierte

Weitere Kostenlose Bücher