Laufend loslassen
hinuntersteigen kann. Dennis und ich singen Kirchenlieder aus der katholischen und evangelischen Tradition. Eines, von Paul Gerhardt, in der Mitte des 17. Jahrhunderts geschrieben, kennen wir beide:
„Befiehl du deine Wege,
und was dein Herze kränkt,
der allertreusten Pflege
des der den Himmel lenkt!
Der Wolken, Lufi und Winden
gibt Wege, Laufund Bahn,
der wird auch Wege finden,
da dein Fuß gehen kann.“
An Villamayor de Monjardín führt der Weg knapp vorbei, in der Folge - es hat wieder aufgehört zu regnen - geht der Camino entlang an Weinbergen und abgeernteten Getreidefeldern über einen schönen breiten weißen Weg durch die siedlungsfreie Landschaft.
Plötzlich kommt unser Gespräch auf das Thema: Was bewegt uns, den Weg zu gehen?
Für Dennis, der gerade sein Examen hinter sich hat und damit auch die lange Zeit der Vorbereitung darauf, ist es auch die körperliche Herausforderung nach der geistigen. „Irgendwie ähneln sich der Weg und die Prüfungsvorbereitungen. Jeden Tag macht man ein gewisses Stück und zum Schluss kommt ein großes Ganzes dabei heraus.“ Er sucht auch die Begegnung mit interessanten Menschen, Kulturdenkmälern und die Verbundenheit mit der Natur. Und er will wissen, was es bedeutet, zu pilgern. Für Verena geht es darum, einmal etwas ganz Neues zu machen.
Mit dem Rucksack ist sie noch nie so weit gelaufen. Sie will weg vom Alltag, will auch die Einfachheit erleben. Nicht zuletzt hat der Weg auch mit ihrem Glauben zu tun. Sie möchte auf eine andere Art Gott begegnen.
Ich erzähle von meiner Lebenssituation vor dem Jakobsweg, von der Resignation und Hoffnungslosigkeit und von der Notwendigkeit, eine Neuorientierung zu finden.
Es klingt in mir dabei noch eine Strophe des Liedes nach, das wir vorhin gesungen haben:
„Auf, auf, gib deinem Schmerze
und Sorgen gute Nacht!
Lass fahren, was dein Herze
betrübt und traurig macht!
Bist du doch nicht Regente,
der alles führen soll;
Gott sitzt im Regimente
und führet alles wohl.“
Mir wird noch einmal klar, dass ich viel gewagt habe mit diesem Weg. Seit über einem Jahr hatte ich fast ständig Herzschmerzen, ohne zum Arzt zu gehen. Wenn ich es getan hätte, werweiß, ob er mir nicht sogar abgeraten hätte, diese Anstrengung auf mich zu nehmen. Ich habe letztlich sogar nicht ausgeschlossen, dass ich den Weg nicht überleben würde und habe mich trotzdem dafür entschieden. Als ich das meinen Weggefährten erzähle, erschrecken sie. „Ihr braucht keine Angst zu haben, dass ich hier gleich tot umfalle.“, beruhige ich sie. „Ich habe jetzt seit Wochen keine Herzschmerzen mehr, fühle mich körperlich gekräftigter denn je und, was noch wichtiger ist, ich baue jeden Tag weiter Lebensmut auf.“ Beide berichten von Themen, die in Gedanken oder Träumen aufgetaucht sind und in denen es um die Auseinandersetzung mit dem Tod der Großeltern geht. Ich bin so froh, diese beiden Wegbegleiter gefunden zu haben. Trotz des großen Altersunterschiedes, beide sind 26, spüre ich, dass wir in vielem eine gemeinsame Wellenlänge haben und immer wieder Gespräche in großer Offenheit möglich sind.
Lange sieht die Landschaft so aus, als würde nie wieder ein Ort auftauchen. Obwohl es noch bewölkt ist, wird es ab elf Uhr wieder warm. Das ist schon unsere Erfahrung aus den vorhergehenden Tagen. Plötzlich ist Los Arcos da. Es ist halb eins.
Die Herberge ist schön am anderen Ufer eines kleinen Flüsschens gelegen. Wir bekommen drei nummerierte Betten in einem Viererzimmer. Ich verstehe den Hospitalero, der uns in den Schlafraum einweist, so, dass wir uns nicht nach den Nummern richten müssen, sondern uns eines der vier Betten aussuchen können. Wenig später dann eine unangenehme Situation. Ein Spanisch sprechender Pilger trifft ein, Südamerikaner offenbar, der auf dem Bett mit seiner Nummer besteht, statt einfach das noch freie vierte zu nehmen. Das Bett mit seiner Nummer habe ich besetzt und alle meine Sachen dort schon ausgebreitet. Er will es unbedingt. Ich finde das kleinlich und versuche ihm das auch klarzumachen, soweit meine Sprachkenntnisse reichen. Ich finde es auch zwanghaft, aber das kann ich glücklicherweise auf Spanisch nicht ausdrücken. Aber er besteht auf seinem Bett. Etwas missmutig gebe ich nach und ziehe um. Später regt er sich bei meinen Weggefährten noch über mein „komisches.“ Verhalten auf, was Dennis und Verena mir natürlich erzählen. Mit einem gewissen Groll denke ich mir: „Wer ist hier
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