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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Mall
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eigentlich komisch?.“
    Die Aktivitäten anschließend lenken mich davon ab.
    Wir kaufen für Abendessen, Frühstück und Wanderung morgen ein, trinken Kaffee. Am Nachmittag nutzt jeder von uns die Zeit für sich. Mir wird deutlich, dass sich meine Pilgertage hier ganz anders strukturieren als in Frankreich. War dort das Unterwegssein für den ganzen Tag prägend, so gibt es hier jetzt zwei Phasen. Der frühe Morgen, der Vormittag und bei längeren Etappen die ersten Stunden des Nachmittags gehören dem Pilgern, der spätere Nachmittag der Besichtigung, dem Gespräch mit anderen Pilgern. So kommt phasenweise das Gefühl von Urlaub auf, das es vorher nur in ganz kurzen Zeiten gab. Was für mich auch zusätzlich die Pilgerschaft verändert, ist unsere kleine Gruppe. Ich erlebe die Annehmlichkeiten gegenseitiger Hilfe, die Schönheit und Zartheit gegenseitiger Rücksichtnahme, die Einübung von Gelassenheit bei Entscheidungen und vor allem auch die wechselseitige geistige Bereicherung. Ich bin sehr froh über diese Gemeinschaft. Später kochen wir zusammen mit Valerie und Julien eine Art Paella und essen gemeinsam.
     
    Von der Herberge fällt der Blick in die Altstadt zurück vor allem auf die Iglesia de Santa María, die Hauptkirche von Los Arcos, deren älteste Teile aus dem 12. Jahrhundert stammen und auf deren Turm Störche nisten. Dort ist um 19 Uhr Gottesdienst mit Pilgersegen.
    Es sind wirklich viele Pilger da. Der Priester, der die Messe leitet, ist wohltuend klar und bestimmt in Ausdruck und Gestik und auch gut zu verstehen. Die Gemeinschaft der Pilgernden, die ihr Vorhaben unter den Schutz Gottes stellen, wird für mich eindrucksvoll spürbar. Der Pilgersegen, auch wenn ich ihn zunächst nur teilweise übersetzen kann, berührt mich tief. Wie ich ihn höre, rhythmisch im Sprachklang, erinnere ich mich, dass er schon bei der ersten Pilgersegnung in Roncevalles gesprochen wurde. Wir bekommen den Text, der aus dem 11. Jahrhundert stammt und in dem die Kraft einer tausendjährigen Pilgertradition schon grundgelegt ist, am Ende der Segnung in der jeweiligen Muttersprache.
    Er lautet:
     
„ O Gott, der du deinen Diener Abraham aus der Stadt Ur in Chaldäa errettet hast, ihn beschütztest auf all seinen Pilgerfahrten und der du der Führer des hebräischen Volkes durch die Wüste warst, wir bitten dich, dass du uns, deine Diener, behütest, die um deines Namens willen nach Santiago de Compostela pilgern.
Sei für uns
Weggefährte auf der Pilgerschaft,
Wegweiser an Kreuzungen,
Kraftquelle bei Erschöpfung,
Schutz in der Gefahr,
Herberge auf dem Wege,
Schatten in der Hitze,
Licht in der Dunkelheit,
Trost in der Mutlosigkeit,
und die Kraft für die Durchsetzung unserer guten Vorsätze, damit wir, dank deiner Hilfe, wohlbehalten das Ziel unseres Weges erreichen und dass wir, bereichert an Gnade und Tugend, unbeschadet nach Haus zurückkehren, voller ersprießlicher und immerwährender Freude, für Jesus Christus, unseren Herrn,
Amen.“
     
    Mit dem Gefühl, einen wirklich runden Tag gehabt zu haben, gehe ich um halb zehn ins Bett.
     

Dienstag, 24. Juli
    Wir stehen um fünf Uhr auf und kommen um sechs Uhr los. Während wir aus dem Städtchen hinauslaufen, steigt in mir nochmals ein leichter Groll über das sture Verhalten des südamerikanischen Mitpilgers und seine seltsame Reaktion auf. Als ich davon meinen Weggefährten erzähle, meint Dennis zu mir: „Komm, setz ihn am anderen Ufer ab und trag ihn nicht mit dir!.“ Ich versuche, in meinem Kopf einen kleinen Hebel umzulegen und es gelingt mir überraschend gut. Die Situation rückt in die Vergangenheit, es ist weder zwingend noch notwendig noch sinnvoll, sie ins Jetzt mitzunehmen. Dann ist auch der Ärger weg.
    Mir kommen ein paar wichtige Einsichten in Erinnerung:
    Es sind unsere Vorstellungen, unser Denken, unsere Erwartungen, die, wenn sie nicht im Einklang sind mit der Wirklichkeit des Lebens, dann unangenehme Emotionen in uns auslösen.
     
    Wenn ich, auf die gestrige Situation bezogen, begreife, dass ich keinerlei Anspruch darauf habe, einem verständnisvollen und großzügigen Mitpilger zu begegnen, wenn ich also diese Vorstellungen von der Wirklichkeit, wie ich sie gerne hätte, loslassen kann, dann geht es mir besser. Wenn ich darüber hinaus anerkennen kann, dass ich es war, der sein Bett in Anspruch genommen hat, aus seiner Sicht ein Übergriff, dann wird meinem Ärger noch mehr der Boden entzogen.
    Mit der Zeit gelingt es mir sogar, immer mehr

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