Laufend loslassen
dass auch die Bibel koanähnliche Bilder kennt: „Wenn das Weizenkorn nicht stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, trägt es reiche Frucht.“ Wir fragen uns, ob sich Antworten auf solche Rätsel auch auf dem Camino erschließen.
Dort, wo der Weg, der durch Ventosa führt, wieder auf den direkten Weg nach Nájera stößt, machen wir im Schatten eines Baumes nochmals Rast. In der Zwischenzeit ist es warm geworden, das Gehen wird schwerer. Wir steigen an Steinmännchen, die andere Pilger errichtet haben, vorbei zum Alto de San Antón, von wo aus Nájera sichtbar wird.
An einer plötzlich am Weg auftauchenden, hohen und langen Wand finden wir einen langen deutschen Text: „Wer ruft dich, Pilger? Welche geheime Macht lockt dich an?.“ Vieles, was den Sinnen guttut und das Herz erfreut, wird beschrieben. Doch des Rätsels Lösung ist das alles nicht. „Die Kraft, die mich vorantreibt, die Macht, die mich anlockt, auch ich kann sie nicht erklären, dies kann allein nur ER dort oben.“, schließt der Text. Das stimmt. Auch die Gespräche über unsere Beweggründe haben Schicht für Schicht Wirklichkeiten an den Tag gebracht, aber dahinter blieb immer noch ein Raum, ein Geheimnis verschlossen. Unsagbar, kaum geahnt.
Als wir in Nájera das Zentrum und die Herberge erreichen, stoßen wir bald auch auf Laura, die Italienerin aus Bergamo mit ihren kurzen schwarzen Haaren. Sie berichtet, 40 Kilometer hinter sich zu haben und wirkt noch erstaunlich frisch. Auch ich habe unsere 31 Kilometer ohne das Gefühl von Erschöpfung geschafft, meinen Weggefährten geht es ebenso. Der Empfang in der Herberge ist herzlich, die Organisation klappt gut. Wir bekommen Karten für das kommunale Freibad und machen uns bald auf den Weg dorthin. Wir begegnen Julia und Lucia, den beiden slowakischen Studentinnen aus Bratislava, die in der Hitze des Tages schwer gelitten haben. Ihnen bin ich schon auf der ersten Etappe in Spanien begegnet, Lucia plagte sich damals mit Knieschmerzen einen steilen Abstieg hinunter. Wir hatten ein paar kurze Worte gewechselt. Erfrischt vom Bad gehen wir einkaufen und Eis essen. In den kühlen, engen Straßen der Innenstadt von Nájera zeigt das Thermometer 29 Grad Celsius. Der Himmel ist völlig klar, kein Dunst und kein Stäubchen trübt die Sonne. Entsprechend intensiv ist die Sonneneinstrahlung, wenn man den Schatten verlässt.
Für 19 Uhr ist Pilgermesse angesagt. Zusammen mit vielen anderen Pilgern und Mitgliedern des Jakobusvereins Nájera gehen wir hin. Immerhin ist heute Jakobustag. Der Priester beeindruckt mich dadurch, dass er den Ritus durch Betonung und Gestik so zelebriert, dass ich mich persönlich angesprochen fühlen kann. Gerne hätte ich von der Predigt mehr verstanden, aber ich schnappe nur ein paar Bruchstücke auf, in denen es um den Wert der Gemeinschaft geht, die unabhängig von Nationalität, Alter, Sprache oder Rang auf dem Jakobsweg entsteht.
Eine Erfahrung, die ich auch auf dem Weg erlebe und die zu den großen Besonderheiten des Camino gehört. Menschen kommen miteinander ins Gespräch, die sich im Alltag kaum je zusammengesetzt hätten. Es ist völlig egal, ob einer viel Geld hat oder nicht, ob jemand 20 Jahre jung ist oder über 70 alt, ob einer Akademiker ist oder Handwerker, ob eine Brasilianerin ist oder einer Koreaner, immer wieder gelingt die Begegnung, weil jeder die Barrieren übersteigen, die Trennung überwinden will, die anderen verstehen will. Es findet sich eine Sprache.
Es ist schon in unserer Hand, etwas zum Klingen zu bringen. Abgesondert bleiben wir füreinander stumm und taub. In der Begegnung mit der Hand des anderen wird der Ton hörbar.
Die festen gesellschaftlichen Rollen dürfen sterben, was uns sonst zur Selbstdefinition verhilft, darf sich auflösen, in dieser Auflösung wird die Kraft des Herzens frei und bringt Frucht. Masken fallen, das wahre Gesicht beginnt, wahrnehmbar zu werden.
Das ist eine Ebene, den Koans auf dem Weg zu begegnen.
Anschließend hat der Jakobusverein eine Musikdarbietung organisiert. Drei junge Musiker, ein Gitarrist, eine Sängerin und eine E-Violinistin, tragen Lieder vor, die mit dem Jakobsweg in Verbindung stehen, aus
Navarra, Kastilien und Galicien. Die kleine, sehr lebhafte Sängerin fordert die Zuhörer immer wieder dazu heraus, den Rhythmus mitzuklatschen. Uns, die wir nachmittags nichts gegessen haben, plagt der Hunger. An die spanischen Essenszeiten haben wir uns immer noch nicht gewöhnt. Kurz nach
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