Laufend loslassen
21 Uhr wird jedoch auch dieses Bedürfnis befriedigt. Vor der Herberge haben die Hospitaleros ein langes Buffet aufgebaut, wo wir uns, wie alle anderen Pilger auch, mit Brot, Chorrizo, verschiedenen anderen Würsten, Tomaten, Oliven und vielem mehr stärken können. Dazu fließt Rioja-Wein. Die Stimmung steigt und der Abend, es ist schon dunkel, klingt aus mit Musik und Tanz. Viele der Tänzer und Tänzerinnen tragen noch Kniebandagen. Ich tanze mit Verena. Glücklich über diesen gelungenen Tag falle ich um etwa 23 Uhr ins Bett und schlafe sehr gut.
Donnerstag, 26. Juli
Um vier Uhr wache ich ausgeruht auf. Im Schlafsaal herrscht noch völlige Ruhe. Obwohl alle 88 Betten belegt sind, gibt es keine lauten Schnarcher und auch die Luft ist erträglich. Überhaupt, nach allem, was ich in einigen Büchern gelesen hatte, hatte ich mir die Vorstellung von unerträglichen Bedingungen gemacht und mich schon darauf eingestellt, die eine oder andere Nacht im Zelt zu verbringen, das ich noch immer mit mir trage. Doch die Verhältnisse sind viel besser als meine Befürchtungen sie ausmalten. Nicht nur mir, sondern auch Verena und Dennis ist aufgefallen, dass vor allem in größeren Schlafsälen ein hohes Maß gegenseitiger Rücksichtnahme gelebt wird. Das wird natürlich auch dadurch verstärkt, dass man nach und nach einen guten Teil der Mitschläfer kennt, mit vielen viel mehr als nur den Gruß ausgetauscht hat und sich für das Wohl der anderen interessiert. Das ist eine besondere Qualität, mit der der Weg die Menschen, die ihn gehen, verbindet.
Ich lege mich noch einmal hin, bis kurz vor halb sechs. Obwohl wir nur eine kurze Etappe von knapp 21 Kilometern vor uns haben, wollen wir bald los, um die Kühle der Morgenstunden zu nutzen. Zehn nach sechs ist Aufbruch, wir durchqueren das nachtschlafende Nájera. Es geht bergauf, eine Art Taleinschnitt, der in einer Szenerie, die auch einem Wildwestfilm zur Ehre gereichen könnte, endet. Wenig später, umgeben von Getreidefeldern und Weinbergen, erleben wir einen wunderschönen Sonnenaufgang, der zu der sanftvioletten Farbe einer fernen Bergkette einen harmonischen Kontrast bildet. Auf breiten Feldwegen kommen wir zügig voran, wandern durch Azofra, um kurz danach an einer verwaisten Bodega Frühstücksrast zu machen.
Wenn wir laufen, ziehen wir an manchen Pilgern vorbei, rasten wir oder halten kurz an, werden wir wieder eingeholt. Immer, wenn der Weg ein langes Stück zu sehen ist, sind einzelne Pilger und kleine Grüppchen wahrnehmbar, manche weit vorne, andere in der Nähe. Wir begegnen Bernard, den beiden Slowakinnen, einem japanischen Paar, mit dem ich gestern bei der Fiesta kurz gesprochen habe, und anderen Pilgern, die wir schon kennen. Noch ist es so kühl, dass wir frösteln, als wir wieder weiterlaufen.
In Cirueña, ein paar Hundert Meter abseits des Weges, ist Kaffeepause angesagt. Mit Schokolade und Waffeln kräftigen wir uns für den letzten Streckenabschnitt. Eine temperamentvolle ältere Spanierin aus dem Dorf gesellt sich zu uns, fragt uns ein bisschen aus und schenkt uns ein paar Mandeln und Nüsse. Sie meint, dass es gut sei, bald weiterzugehen, denn am Nachmittag werde es heiß. 30 bis 35 Grad seien für den Alto Rioja gemeldet. Wir folgen dem Rat, auch wir wollen bald in Santo Domingo de la Calzada sein.
Es ist erst kurz vor zwölf, als wir auf der Calle Mayor, dem Weg, den der heilige Domingo vor fast 1000 Jahren erstmals befestigt hat, in die Stadt hineinziehen. Schon eine Viertelstunde später sind wir in der kleinen Herberge im Zisterzienserinnenkloster. Es ist die Herberge, über die Hape Kerkeling in seinem Buch ein so verheerendes Urteil gefällt hat. Wir finden sie recht behaglich und beziehen drei Betten in einem relativ geräumigen Zimmer mit sechs Betten und setzen uns dann in den schattigen Patio.
Anschließend bummeln wir zu dritt durch den Ort, schauen uns die hübsche Altstadt an, bis wir uns vorläufig trennen. Ich gehe zur Post und frage nach postlagernden Briefen für mich. Ich hatte Edith diesen Ort als „Briefkasten.“ mitgeteilt. Nichts ist da.
Ab halb sechs kochen wir dann einen köstlichen Safranreis und Fisch, dazu Salat, und trinken einen guten Rosé. Vorher ist es mir noch gelungen, für uns drei Ahorcaditos (kleine Erhängte) zu besorgen, die örtliche Gebäckspezialität, die sich auf die wichtigste und bekannteste Legende der Stadt bezieht. Nach ihr kam im Mittelalter einmal ein Elternpaar mit seinem hübschen Sohn
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