Laufend loslassen
sollten, klar gesagt hat: „Ein totes Pferd kann man nicht mehr reiten.“
Auf dem Weg heute haben wir die Grenze nach Kastilien überschritten, wo wir jetzt lange bleiben werden. Immer mehr weitet sich die Landschaft zum zentralspanischen Hochland. Schattenlose Weite, faszinierende Weitblicke. Die letzten Getreidefelder werden gemäht und gedroschen.
Auf der Rückfahrt mit dem Bus komme ich an einer Stelle vorbei, wo wir heute Morgen die beiden österreichischen Zwillingsschwestern ein bisschen ratlos vorgefunden hatten, in ihren Armen, eingewickelt ins Kleid, einen kleinen, jungen, völlig erschöpften Hund, den sie mit Wasser aufpäppelten. Der war vorher den beiden Slowakinnen mehrere Kilometer hinterhergelaufen, bis er vor Durst und Erschöpfung nicht mehr weiterkonnte. Die Schwestern hatten versucht, einen spanischen Autofahrer davon zu überzeugen, dass er den Hund in den vorherigen Ort zurückbringen sollte. Aber der weigerte sich und fand Ausflüchte. Erst als ihm die Österreicherinnen Geld anboten, wies er dieses entrüstet von sich, packte aber den Hund in sein Auto und brachte ihn zurück ins Dorf.
Als ich von Santo Domingo „heimkehre.“, haben Verena und Dennis schon Ratatouille gekocht. Wir essen zusammen mit Julia und Lucia, den beiden Slowakinnen. Was mir auffällt und gefällt: Immer häufiger wird unsere Dreiergemeinschaft in den Herbergen zum Kristallisationspunkt für eine größere Tischgemeinschaft, wofür sicher auch die gute Kontaktfähigkeit von Verena und Dennis verantwortlich ist. Vor allem an Verena bewundere ich immer wieder die Leichtigkeit, mit der sie neue Kontakte knüpfen kann.
Anschließend ist in der angrenzenden Kirche Santa María Gottesdienst mit Pilgersegnung, wo ich den deutschen Text über den Sinn des Jakobsweges vorlese. Es geht dabei um die Gründe, den Jakobsweg zu gehen. Im ersten Teil wird davon gesprochen, dass Gott uns gerufen hat. Im zweiten geht es darum, dass uns persönliche Fragen auf den Weg gebracht haben können und zum dritten darum, dass wir Sterne werden, die die Botschaft des Jakobus im Alltag zum Leuchten bringen sollen. Bernard liest den gleichen Text in Französisch, Julia in Englisch.
Samstag, 28. Juli
Um halb sechs laufen wir los. Die letzten Nachtschwärmer von Belorado feiern vor einer Bar auf der Straße, reichlich beschwipst. Noch ist es stockdunkel und wir brauchen ein paarmal die Taschenlampen, um den Weg zu finden. Doch allmählich erwacht der Tag.
Genau 7.03 Uhr geht über einem fernen Bergzug die Sonne auf. Wir unterhalten uns über Träume, ihre Bedeutung für uns, über deren Auslegung, Tiefenpsychologie, über therapeutische Verfahren und ihre Wirkung und was wir davon an uns schon erlebt haben. Beim Reden kommen wir schnell voran und erreichen Villafranca, Montes de Oca. Am Brunnen machen wir Rast, füllen die Flaschen für den langen Weg durch die Oca-Berge und nehmen uns Zeit für eine kurze Morgenandacht mit dem Pilgersegensgebet aus Los Arcos.
„Sei für uns Weggefährte auf der Pilgerschaft..
Kraftquelle bei Erschöpfung..
Schatten in der Hitze….“,
klingt in mir nach. Zum ersten Mal außerhalb eines Gottesdienstes haben wir drei Weggefährten zusammen gebetet. Unsere Gemeinschaft gewinnt eine neue Dimension dazu.
Im Gegensatz zu gestern, wo die Beschäftigung mit dem Traum und später mein Ärger wegen des verlorenen Messers Energie gefressen haben, halte ich das hohe Tempo heute gut mit. Ich spüre, dass ich meine Energie auf das Laufen konzentrieren kann. Der steile Anstieg hinter dem Ort führt uns nach Tagen wieder durch Wald, farnbestandene Wegränder und Eichen spenden Schatten. Der Weg führt weiter durch den Wald, aber auf einer breiten, schattenlosen Schneise. In der Nähe eines Denkmals für im spanischen Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 erschossene Republikaner machen wir Rast.
Schon um halb zwölf laufen wir in San Juan de Ortega ein. Ein winziger Ort von 16 Einwohnern, der geprägt ist von der romanisch-gotischen Kirche, der Albergue und der Bar. Wir tragen uns in die Übernachtungsliste ein, bekommen ein Bett in dem geräumigen Schlafraum. Für die fällige Kleiderwäsche gibt es keine Einrichtungen, nur den öffentlichen Brunnen des Ortes, den wir dann auch nutzen. Da es außer der Besichtigung der Kirche nichts gibt, was man in dem winzigen Ort unternehmen könnte und wir viel Zeit bis zum Pilgergottesdienst um 19 Uhr haben, verbringen wir sie mit Schreiben, Unterhaltung und Spielen.
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