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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Mall
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als Pilger in die Stadt. Dieser hatte es der jungen Wirtstochter angetan, er verweigerte sich ihr jedoch. Aus Rache und verletztem Stolz legte sie ihm einen silbernen Becher in sein Gepäck. Als dann Eltern und Sohn am nächsten Morgen aufbrechen, meldet die Herberge das Fehlen eines wertvollen Bechers, der zu dessen Entsetzen bei dem jungen Mann gefunden wird. Dieser wird daraufhin verurteilt und schmachvoll gehängt. Voller Gram setzen die Eltern dennoch ihre Wallfahrt ans Apostelgrab fort. Als sie zurückkehren, sehen sie ihren Sohn noch immer am Galgen hängen und - er lebt! Denn der heilige Jakobus hat ihn, den Unschuldigen, die ganze Zeit gehalten. Eilig laufen die Eltern zum Richter und berichten diesem vom Mirakel. Doch der winkt ab. „Euer Sohn ist genauso tot wie dieser Hahn hier.“ Und er zeigt auf den Teller, den er vor sich stehen hat. Da fliegt das gebratene Hähnchen mit einem Mal davon. So kommt der Sohn wieder zu Ehren und die Familie kann glücklich die Heimreise fortsetzen. Zum Andenken an dieses Ereignis sind noch immer in der Kathedrale ein Hahn und ein paar Hühner zu sehen.
    Der Tag klingt aus mit der Pilgermesse in genau dieser Kathedrale. Der hohe romanisch-gotische Kirchenbau erinnert mich an Conques und lässt damit die Erinnerungen dieses für mich so wichtigen Tages kurz wieder aufleben. Am Ende des Gottesdienstes, während der Priester die Geschichte von Santo Domingo de la Calzada erzählt, kräht der Hahn in der Kirche, für den der Ort berühmt ist. Das gilt als ein gutes Zeichen. Alle, die den Hahn krähen hören, sollen gut in Santiago ankommen.
     

Freitag, 27. Juli
    Während ich um halb sechs aufwache, hängt mir ein Traum nach. Ein Mann, ich nehme ihn als meinen Vater wahr, obwohl er ganz anders aussieht, will den Freund Ediths erschießen. Ich will ihn davon abhalten, aber es gelingt mir nicht. Er zückt eine kleine Spielzeugpistole und drückt ab. Der Schuss hat keine Wirkung. Missgestimmt wache ich auf, noch voll von den Bildern des Traumes. Ob der Traum damit zu tun hat, dass ich am Vortag bei der Post wieder keinen Brief von Edith vorgefunden habe, den ich mir so wünschte? Die innere Aufgabe, mich mit dem Scheitern meiner Ehe auseinanderzusetzen, hat sich jedenfalls nach elf Tagen scheinbarer Ruhe zurückgemeldet.
    Der Missmut steigt, weil ich im völlig dunklen Raum meine Sachen packen muss, nur weil einer in den sechs Betten noch schläft. Also schleife ich alles hinunter in den wohnzimmerähnlichen Aufenthaltsraum zwei Treppen tiefer. Wir laufen los und machen nach zweieinhalb Stunden Rast.
    Ich lange in die Taschen, um mein Messer herauszuholen, doch da ist nichts. Es muss auf dem Bett herausgefallen sein und wegen der Dunkelheit habe ich es nicht gesehen. Sofort geht meine Laune gegen null. Einerseits tut es mir leid um das Taschenmesser, das ein Geschenk meiner Familie ist und mir bisher gut gedient hat, andererseits, und das ist das Wichtigere, ärgere ich mich über mich selbst, weil ich wieder einmal nicht auf mich geachtet und aus lauter Rücksicht meine eigenen Bedürfnisse übergangen habe. Mein Bedürfnis wäre gewesen, kurz bei Licht zu prüfen, ob ich alles eingepackt habe. Das hätte keine 20 Sekunden gedauert und außerdem war es schon fast sechs Uhr, also Aufweckzeit in den Albergues. Ich aber habe entgegen meinem dringenden Gefühl das Licht ausgelassen.
    Das Problem wird in Belorado gelöst. Pedro, einer der beiden Hospitaleros, ruft für mich in Santo Domingo an, und wirklich, das Messer ist da. Also fahre ich am Nachmittag mit dem Bus zurück, klimatisiert und in 20 Minuten, wozu wir am Morgen fünfeinhalb Stunden gebraucht haben. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, den Weg noch einmal zu sehen. Vom Bus aus sieht er glatt und leicht aus, als Pilger spürt man den Staub, die Steine, die Sonnenglut. Seltsam distanziert wirkt das Land durch die Scheiben des Busses. Auch in Santo Domingo komme ich mir komisch vor. So schön das Städtchen ist, es gehört zu gestern, nicht zu heute. Ein wenig habe ich das Gefühl, in die eigene Vergangenheit des Pilgerweges zurückversetzt zu sein, in etwas schon Gelebtes.
    Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, wird für mich zu einer beeindruckenden Erfahrung: Leben ist nur vorwärts möglich, nicht rückwärts. „Lass die Toten ihre Toten begraben.“, heißt es irgendwo in der Bibel. Mir fällt dabei auch ein, dass Edith mir vor einem Jahr auf meine Frage, ob wir unserer Ehe nicht noch einmal eine Chance geben

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