Laufend loslassen
Wir sitzen an den Tischen vor der Herberge und spielen „Persönlichkeiten raten.“. Immer zwei denken sich eine Person für den Dritten aus, die dann erraten werden muss. Verena und ich lassen uns für Dennis den heiligen Domingo de la Calzada einfallen, dann, während ich weg bin, berät Dennis sich mit Verena und schlägt ihn auch für mich vor. Natürlich kann es Verena Dennis nicht ausreden, sonst würde er ja merken, dass wir für ihn denselben ausgesucht haben. Die Situation hat einiges an Komik, besonders für Verena, die ja als Einzige weiß, dass wir die gleiche Person erraten müssen. Dennis und ich haben es dann einfacher. Wir nehmen die Slowakin Julia für Verena zum Raten. Mit viel Witz und Esprit geht es dann los. Verenas geistige Beweglichkeit und ihre schnelle Auffassungsgabe werden deutlich und ich merke, dass mir das gut gefällt an ihr.
Das Licht der Sonne ist gleißend hell heute. Verena bekommt Probleme mit den Augen und ich träufele ihr Augentropfen aus meinem Medizinvorrat ein. Ich freue mich darüber, ihr diesen kleinen Dienst erweisen zu können.
Später erzählen wir uns dann eine Rundum-Geschichte. Jeder von uns erzählt einen Satz, dann kommt der Nächste an die Reihe. Sie beginnt mit einem Pilger, der, schon im reiferen Alter, sich auf den Weg nach Santiago macht. Nach vielen Wirrungen findet er ein Kästchen voller Goldstücke, kann es aber nicht behalten, weil dieser Schatz für einen Jüngeren bestimmt ist, der auch auf dem Pilgerweg unterwegs ist. Ein bisschen ähnelt die Struktur unserer Geschichte Paulo Coelhos „Der Alchimist.“, aber mit anderem Happyend.
Am Nachmittag haben wir keine Chance, etwas zu essen zu bekommen, weil die Bar ihre festen Prinzipien hat, wann sie etwas ausgibt. Nicht einmal ein Eis gibt es, die Hinweistafeln werden demonstrativ weggeräumt. Also pflücke ich auf einem nahe gelegenen Feld ein paar Ähren und wir essen die Körner. Am Abend erleben wir dann Pfarrer Don José Maria Alonso bei der Pilgermesse. Der Altarraum wirkt unaufgeräumt, irgendwo in der Kirche nisten Schwalben, die während der Messe herumfliegen. Der alte Mann, sicher ein Original am Jakobsweg, ist durch sein Alter in der Ausübung seiner Aufgaben beeinträchtigt, aber er tut sie mit Hingabe. „Das war der skurrilste Gottesdienst, den ich bisher erlebt habe.“, kommentiert Dennis. Er zitiert den 84. Psalm, in dem es heißt: „Denn der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ihr Nest, da sie Junge hecken; deine Altäre, Herr Zebaoth, mein König und mein Gott. Wohl denen, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar.“
Anschließend kommen wir noch in den Genuss von Don Josés Knoblauchsuppe, würzig, aber mit viel Fett, was den Magen nach einer unfreiwilligen Fastenzeit seit der letzten Wanderrast auf eine harte Probe stellt.
Mit Morcilla a la Burgos, einer gebratenen Blutwurstspezialität, gibt es in der Bar doch noch ein kraftvolles Abendessen zu einem echten Pilgerpreis. Dort lernen wir Matthias aus Lübeck und Jan, einen holländischen Pilger, kennen. Ich bin bald müde heute, trotz des ruhigen Tages. Um halb neun schaue ich auf die Uhr und gähne. „Ich fühle mich so, als wäre es schon halb zehn.“, sage ich voller Ernst. Da müssen meine Weggefährten lachen, und ihre Heiterkeit macht mich wieder etwas munterer.
Sonntag, 29. Juli
Wieder stehen wir um fünf Uhr auf und um sechs Uhr geht es los. Da es noch Nacht ist und kühl, kommen wir wieder gut voran. Außerdem ist Nebel, der die Landschaft geheimnisvoll einhüllt. Bald schon passieren wir Agés. Alles schläft noch, nur zwei junge Frauen sind unterwegs. Entlang der Straße geht es nach Atapuerca.
Von hier aus gäbe es die Möglichkeit, die Ausgrabungsstätte zu besichtigen, in der ein Vorläufer des Menschen - 800 000 Jahre alt - gefunden worden ist. Wir haben aber erst mal körperlichen Hunger und weniger Wissensdurst. Nachdem wir auf den nassen Stühlen im Garten der Albergue gefrühstückt haben, finden wir ein offenes Café und einen Laden, wo wir uns für den Tag versorgen.
Hinter Atapuerca steigt der Weg an. An einem hohen Kreuz halten wir kurz an. Noch ist dichter Nebel. Ein Polstersessel steht in der Landschaft. Daneben ein großes Labyrinth in Spiralform, gelegt aus Steinen. Das ganze Bild macht einen fast surrealistischen Eindruck. Etwa einen Kilometer weiter, an einem Aussichtspunkt, lichtet sich der Nebel ein wenig und lässt für Momente den Blick auf die Meseta von Burgos
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