Laufend loslassen
geworden, den er auf dem Camino finden konnte. „Letztlich ist es Gottvertrauen.“, fasst er diese Erkenntnis in Worte und fügt hinzu: „Ich kann das gut brauchen, denn zu Hause wird sehr viel Neues auf mich zukommen.“
Für mich selbst kristallisieren sich immer deutlicher ein paar wichtige Veränderungen und Einsichten heraus:
Ich sehe das Leben wieder voller Möglichkeiten.
Die Einengung und Engführung, die ich bisher mit zunehmendem Alter erlebt habe, ist aufgebrochen. Neue Lebenskonzepte tauchen vor meinem inneren Auge auf.
Ich habe neuen Lebensmut gefunden, fühle mich seelisch und körperlich kräftiger als seit Langem.
Ich habe gemerkt, dass ich mehr Menschen um mich herum aushalten kann, als ich dachte. Das ist mir vor allem in den Herbergen deutlich geworden.
Ich kann mir jetzt vorstellen, auch mein Haus für mehr Begegnung zu öffnen. Ich habe neue Ideen für die berufliche Nutzung der Caminoerfahrungen. Was ich auch entdeckt habe: die Erfahrung des „carpe diem.“. Was ich jetzt nicht aufnehme, nutze, tue, ist vorbei.
Nichts Zukünftiges ist wirldich planbar. Es kommt immer wieder anders. Also Offenheit und Wachheit für die Erfordernisse des Moments.
Ich fühle mich geleitet, geschützt und getragen.
Doch auch ein Schatten wird deutlich: Bei Menschen, die ich gerne mag, gerate ich leicht in Abhängigkeit.
Wir laufen und laufen. Die Kilometer bis Santiago schmelzen immer schneller, ein Eindruck, den ich schon seit einer Woche immer stärker habe. Als wir Petrouzo erreichen, hat sich schon eine lange Schlange von Rucksäcken vor dem Eingang der Herberge gebildet. Sie markiert, ständig wachsend, die Rangfolge. Wir kommen unter und können in der ausgestatteten Küche gut kochen.
Seit Bianca mit uns dreien mitläuft, spüre ich verschiedene Veränderungen. Vor allem in den letzten zwei, drei Tagen entscheiden die drei, so kommt es mir wenigstens vor, immer mehr ohne mich, ich gerate mehr und mehr an den Rand und Verena weicht mir aus. Das wird mir auch am Abend beim gemeinsamen Essen deutlich und schmerzt mich. An mir selbst stelle ich eine merkwürdige Lähmung fest. Ich komme mir irgendwie willenlos vor, nur von dem Bestreben getrieben, die Nähe von Verena und Dennis nicht zu verlieren. Ich laufe einfach nur noch mit. „Was passiert da eigentlich? Woher kommt diese Ohnmacht, woher dieses Anhaften, woher fließt dieser Schmerz, woher kam auch diese tiefe Trauer und Verletzung in Samos?.“, frage ich mich.
Dienstag, 21. August
Um fünf Uhr merken wir, dass wir alle vier wach sind und beschließen, aufzustehen. Wir frühstücken in der Herberge. Kurz nach sechs geht es hinaus auf den Camino. Es ist dunkle Nacht und wir haben einige Schwierigkeiten, den Weg zu finden. Mit Taschenlampen tasten wir uns durch den Eukalyptuswald. Gegen sieben Uhr ist es dann so hell, dass der Weg kein Problem mehr darstellt. Wir kommen gut voran.
Meine Stimmung ist gedämpft, fast traurig. Ich leide unter der Ablehnung, die ich von Verenas Seite seit einigen Tagen spüre. Ich habe auch die Intuition, dass sie nicht mit mir, wie früher gedacht, sondern alleine weiter nach Finisterre gehen will.
Nach einer Rast in Lavacolla nehme ich meinen Mut zusammen und spreche mein Gefühl, abgelehnt zu werden, direkt an und frage Verena nach dem Grund. Sie erklärt mir, dass mein Verhalten sie an jemanden erinnere und dass sie mit dieser Art nicht gut zurechtkomme und deswegen Abstand brauche.
„Welches Verhalten meinst du genau? Sag es mir bitte.“, fordere ich sie auf. „Ich bin da unsicher, ich habe auch gar nicht das Recht, andere Verhaltensweisen von dir zu verlangen.“, sagt sie zögernd.
„Mir ist ganz wichtig, es zu wissen.“, bekräftige ich meinen Wunsch. Dann sagt sie mir doch, dass ich mich an sie anhänge und dadurch nicht selbstständig genug für mich entscheide. „Ich fühle mich dann indirekt verantwortlich für deine Entscheidungen.“, erklärt sie mir. „Damit komme ich in eine Rolle, die ich nicht will und in der ich mich eingeengt fühle.“ Ich versuche ihr zu erklären, dass immer dann, wenn Menschen mir ans Herz gewachsen sind, so wie sie und in anderer Weise auch Dennis, für mich die Gefahr besteht, dass ich zu viel von mir aufgebe. Ich traue mich nicht, ihr klar zu sagen, wie sehr ich sie mag. Ich beschreibe, dass ich viel emotionale Wärme brauche, und um die zu bekommen, Nähe auch durch das Aufgeben eigener Bedürfnisse suche. Sie sagt mir, dass das, was dabei
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