Laufend loslassen
Herberge gekommen und erzählt, dass leichter Nieselregen fällt. Der hat sich aber schon verkrümelt, als wir losgehen. In San Julian machen wir eine erste Rast. Einen Kilometer weiter, am Ortsschild von Casanova, machen wir ein paar lustige Fotos. Weiter geht es dann durch Heideland und kleine Siedlungen bis Furelos. Dort finden wir Hans und Doris. „Am Dienstag in Santiago.“, machen wir aus.
Gleich nebenan in der St.-Johannes-Kirche, die uns der Pfarrer erklärt, fällt ein Christusbild auf, bei dem sich der Gekreuzigte mit einer Hand vom Kreuz gelöst hat und zur Erde zeigt. Wir finden ein kleines Gebet zu diesem Christus von Furelos:
„Jesus Christus, einziger Sohn des Vaters
und Sohn von Maria,
Gott und Mensch,
der unsere menschliche Natur mit uns geteilt hat,
um uns von der Sünde zu befreien
und uns zu einem Leben mit Gott zu führen.
Die nicht angenagelte Hand dieses Christus zeigt uns,
wie Jesus jeden Einzelnen von uns sucht ,
um uns in den Himmel zu führen. Amen.“
Wieder geht es zügig weiter. Um die Mittagszeit erreichen wir Melide, wo Markt ist und offenbar Feria. Pulpo, also das Fleisch von Kraken, wird in großen Kesseln gekocht. Das Städtchen ist lebendig und in Feststimmung. Wir kaufen für den Abend ein. Der Weg danach geht auf und ab. Eukalyptusbäume dominieren, ihr Duft tränkt die Luft. Junge Pflanzungen ab und zu, Bäume mit fast runden und grünvioletten Blättern. Man glaubt kaum, dass es die gleiche Baumart ist wie die ausgewachsenen mit ihrer abblätternden Rinde.
Später wird Puente erreicht mit seiner Kirche. Wieder zeigt der Pfarrer den Altar mit seiner Jakobusdarstellung und segnet Verena und Dennis wie ein Paar. Beide empfangen den Segen, nebeneinanderkniend, mit großem Ernst. Ich stehe daneben und wundere mich. Es verstärkt sich in mir die Ahnung, dass das Beziehungsgeflecht unserer Gemeinschaft sich wandelt. Dennis und Verena laufen jetzt oft voraus, lebhaft im Gespräch. Ich laufe manchmal mit Bianca, aber oft allein.
Der Weg führt weiter auf und ab. Bianca tut das Knie weh, sie kämpft sich voran. Die Herberge in Ribadiso am Rio Isa ist voll, Michaela und Sebastian haben gerade noch Platz gefunden, wir nicht. Sie ist in einem alten Haus, hübsch am Ufer gelegen, macht einen gemütlichen Eindruck und hat sogar eine teilweise ausgestattete Küche. Aber selbst auf dem Boden ist kein Platz mehr. Wir gehen also weiter nach Arzúa und nehmen die private Herberge „Don Quichote.“. Sie hat geräumige Schlafräume und gute Duschen, aber - was wir erst in der Nacht merken - für den Schlafraum mit 48 Betten, der nur durch Vorhänge in drei Bereiche geteilt ist, gibt es keinerlei Frischluftzufuhr.
Da eine Küche fehlt, gehen wir abends notgedrungen auswärts essen und finden ein Pilgermenü, das wirklich sein Geld wert ist und sehr schmackhaft. Dennis’ humorvolle Art, Loriot-Sketche zu erzählen, lässt den Abend lustig werden und heitert auch mich etwas auf. Wir beschließen den Tag mit einer guten Flasche Bierzo-Wein aus Cacabelos und einem Fußbad zu dritt mit Eukalyptusblättern.
Was ich heute den ganzen Tag gemerkt habe, ist, dass sich meine Stimmung ändert, je mehr wir uns Santiago nähern. Irgendetwas stimmt mit unserer Gemeinschaft nicht mehr. Ich habe das Gefühl, dass Verena mir aus dem Weg geht, und das tut mir weh. Während ich meine Notizen schreiben will, stoße ich in meinem Tagebuch auf den Eintrag vom 20. Juni, also von vor fast genau zwei Monaten.
„LEBEN - LIEBEN - LEIDEN.“, lese ich. „LERNE LOSLASSEN.“, steht da auch. „Nicht schon wieder.“, stöhne ich innerlich.
Montag, 20. August
Um vier Uhr früh klingelt ein Wecker fünf Mal, bevor der Besitzer ihn ausschaltet. Ich bin wach und ärgerlich über so viel Rücksichtslosigkeit. Die Luft im Raum ist zum Schneiden und stinkt nach viel Mensch. Dennoch und mit viel Trotz schlafe ich nochmals ein, unruhig.
Kurz vor sechs geht es dann raus.
Auf dem Weg unterhalte ich mich mit Dennis über die Erkenntnisse vom Camino. Er hat erfahren, wie wichtig es ist, Erwartungen und auch Tagespläne loszulassen und sich keine Sorgen über den morgigen Tag zu machen. Er erinnert an eine Bibelstelle bei Matthäus: „Seid also nicht besorgt für den morgigen Tag; denn der morgige Tag wird für sich selber sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Plage.“ Also mit Offenheit auf das zugehen, was kommt. Mit dieser Gelassenheit zu leben, ist für ihn der wertvollste innere Schatz
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