Laufend loslassen
besuchen den Pilgergottesdienst in der alten Kirche und sind mit einer Spanierin und dem Priester zusammen die einzigen Anwesenden. Wenig später versammeln wir uns noch in dem Restaurant im Ort, wo wir zusammen mit anderen Pilgern, darunter Michaela und Sebastian, ein Pilgermenü bekommen. Es wird eine lustige Runde, bei der auch viel Wein fließt. Ich bin dabei und beteilige mich, und doch spüre ich, dass noch immer ein Teil in mir abgespalten ist und voller Trauer und Wehmut. Mir fällt ein Lied von Reinhard Mey ein, in dem er davon singt, so viel zu trinken, „bis ich endlich so betrunken bin, dass ich auch dieses lausige Hotel ertragen kann.“. So geht es mir an diesem Abend auch.
Und es ist wahrscheinlich noch viel mehr als nur das „Hotel.“, das ich ertragen können möchte.
Freitag, 17. August
Es ist ein herrlicher Morgen, kalt und klar. Der Himmel ist rötlich und türkis verfärbt, als wir nach draußen gehen. Noch immer spüre ich meinen Groll, vor allem als ich höre, dass es kein Frühstück gibt. Schließlich bekommen wir doch noch eins am überteuerten Wohnwagenkiosk. Auf dem Weg danach gelingt es mir, die Erfahrung des vorletzten Tages mit Verena zu besprechen. Ich erzähle ihr, wie sehr ich darunter gelitten habe und immer noch leide, allein gelassen worden zu sein.
„Ich denke, dass für dich die Bedeutung unserer Gruppe viel größer ist als für mich.“, erklärt sie mir. Das ist so, wird mir klar. „Ja, für mich hat unsere Gemeinschaft einen sehr hohen Stellenwert. Zum ersten Mal seit der Trennung erlebe ich mit euch wieder Nähe. Das brauche ich und es tut mir gut. Ich war zu lange und zu viel allein. Mit dem Auszug meiner Frau ist auch fast mein gesamter Freundeskreis zusammengebrochen. Ich wollte auf dem Camino auch neue Freunde finden.“
„Jeder ist mit verschiedenen Intentionen auf dem Camino unterwegs.“, stellt sie fest. „Für mich ist er nicht primär der Ort, meine soziale Seite auszuprobieren. Ich weiß, dass ich das kann und es gehört natürlich auch dazu. Aber das steht für mich hier nicht im Vordergrund.“ Das Gespräch kreist weiter um die Themen individuelle Entscheidung versus Gruppenentscheidung beziehungsweise Abklärung, Rücksichtnahme versus Eigeninteresse. Ich erläutere ihr, wie ich ihre Art der Entscheidung für die Herberge in Sahagún wahrgenommen habe und wie sie auf mich gewirkt hat. Verena bedankt sich für diese Rückmeldung. Später erzählt sie mir, dass ihr dadurch etwas Wichtiges klar geworden ist. Auch ich erkenne etwas in diesem Moment. Die Irritation, die ich wegen der Deutlichkeit der Entscheidung Verenas für ihre Bedürfnisse erlebt habe, war die Folge eines Zielkonfliktes. „Für mich war wichtig, meine eigenen Bedürfnisse zu erkennen und dann danach zu handeln.“, formuliert Verena ihre Intention. Für mich hatte in jenem Moment die Bewahrung der Gemeinschaft und die Sicherung der freundschaftlichen Nähe von uns drei Weggefährten absoluten Vorrang.
Trotz der unterschiedlichen Positionen spüre ich deutliche Erleichterung nach dem Gespräch. Ich konnte meine Gefühle ansprechen und verstehe auch die Situation von vorgestern etwas besser. Es ist ein sonniger Tag, noch kühl, aber wunderbar klar.
Die Zahl der Pilger ist nochmals angestiegen, seit Sarrià passiert ist. Hier beginnen viele Spanier ihren Weg nach Santiago, um die „Compostela.“ zu bekommen, die lateinische Urkunde, die jeder Pilger erhält, der nachweist, dass er die letzten 100 Kilometer zu Fuß oder die letzten 200 Kilometer mit Fahrrad oder Pferd zurückgelegt hat. Viele fremde Gesichter, manche erwidern nicht einmal den Gruß. Das Gefühl der Pilgergemeinschaft schwindet. Mir scheint, dass Dennis und Verena ihren Humor dadurch nicht verlieren. Wenn Dennis in seiner unnachahmlichen Art die Härte der kastilischen Sprache, wie wir sie mit ihren vielen „..dad.“ am Ende oft in den Kirchen gehört haben, parodiert, ist Verenas helles, fröhliches Lachen seine Begleitmusik und auch ich kann nicht anders, als herzlich mit einzustimmen. „Lache, und jede Situation wird erträglicher.“, hat Verena einmal als eine ihrer Erkenntnisse auf dem Camino formuliert. Sie kann das wirklich.
Es heißt bald ankommen, soll noch Platz in der Herberge sein. Um halb eins stehen wir vor deren Tür im nördlichen Teil der Stadt Portomarin. Der Ort ist, obwohl in den Sechzigerjahren wegen des Stausees an den Berghang umgesiedelt, recht hübsch. Wir ordnen uns ans Ende
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