Laugenweckle zum Frühstück
eindeutig noch nicht wieder. Die Daunenjacke war viel zu warm und ich öffnete den Reißverschluss. Ich schnaufte die Hasenbergsteige hinauf und blieb an jeder zweiten Villa unter dem Vorwand stehen, die Erker, Balkönchen und efeuumrankten Eingangstüren zu studieren. Das Wohngefühl hier oben war vermutlich ein bisschen anders als bei uns da unten, im dichtestbesiedelten Stadtteil Deutschlands.
Ich beschloss, auf den
Blauen Weg
zu verzichten und mich stattdessen mit der Aussichtsplattform rechter Hand zu begnügen. Auch dort gab es Bänke in der Sonne, wenn auch nicht so windgeschützt. Dafür entschädigte der grandiose Blick über die Häuserschluchten im Westen bis zum noch nicht amputierten Hauptbahnhof und bis weit hinaus in die Löwensteiner Berge. Eine Frau kam mir entgegen, ein Kind an der Hand, das vielleicht sieben oder acht Jahre alt sein mochte. Das Mädchen lachte und zeigte mit dem Finger auf mich: »Guckamool, Mama ...«
»Mr zeigt net mitm Fängr uff d’Leit!«
»Abr Mama, des isch doch ...«
»Jetz bisch abr schdill!«
Die Frau zog das Kind an mir vorbei und warf mir einen entschuldigenden Blick zu. Ich sah an mir herunter. Meine Jeans hatte nur ein paar ganz kleine Flecken (Kirschjoghurt) und ich trug die gleichen Schuhe und Strümpfe. Kinder hatten halt oft ihren ganz eigenen Sinn für Humor.
Ich setzte mich auf eine freie Bank, wickelte mich fest in meine Jacke und schloss die Augen. Ein paar Sonnenstrahlen, genau das war es, was mein von Krankheit gezeichnetes Bleichgesicht jetzt brauchte. Außerdem hatte ich jetzt endlich die nötige Muße, um
den Kuss
zu analysieren.
Wie immer war ich schonungslos ehrlich mir selbst gegenüber. Vielleicht hatte ich mich ein klitzeklitzekleines bisschen in Leon verguckt. Das lag aber nur an der Situation – an der frustrierenden Erfahrung mit Eric und daran, dass Leon mich in einem schwachen Moment erwischt hatte. Zum Glück war nicht mehr passiert! Bevor ich mich richtig verknallte, zog ich besser die Notbremse. Erstens konnte ich sowieso nicht mit Yvettes Körperbau, Wallehaaren, Kondition, Jogginganzug und Ingenieurswissen konkurrieren. Zweitens würde ich mit Leon nicht glücklich werden. Ich wollte in die Oper, er ins Stadion. Ich wollte tiefschürfende Gespräche führen, während er im Geiste bei den Fußmatten von Aldi war. Ich las das Spätwerk von Arno Schmidt und er
Auto, Motor und Sport
(auf einmal fiel mir ein, dass ich immer noch nicht wusste, was an jenem ersten Abend zwischen Leon und mir eigentlich vorgefallen war. Bei Gelegenheit würde ich versuchen, ihn unauffällig auszuhorchen). Und wenn Leon mehr von mir gewollt hätte, dann hätte er doch nach dem verrutschten Kuss bestimmt nicht fluchtartig meine Wohnung verlassen! Wahrscheinlich war es ihm total peinlich gewesen und er war deshalb abgehauen! Und Eric, soviel war mir nun klar, Eric war mittlerweile in der Schublade »Vorrundenausscheider« gelandet. Schublade auf, Eric rein. Ich würde ihn aus meinem Leben und meiner Erinnerung streichen. Blieb also unter dem Strich: immer noch kein Lover, immer noch kein Job. Das war nicht besonders aufbauend. Wenigstens würde mir Leon als guter Nachbar und Kumpel bleiben, vorausgesetzt, er zog nicht bei der nächsten Gelegenheit mit der Sumpfschnepfe in eine Vier-Zimmer-Wohnung mit Stadtblick, am Bubenbad oder in der Hauptmannsreute.
Ein kühler Wind kam auf. Das war nichts für meine Erkältung. Da die Kussfrage jetzt gelöst war, konnte ich mich wieder auf andere Dinge konzentrieren. Kuchen. Ich wollte Kuchen kaufen. Ich verspürte schon wieder so ein kleines bisschen Appetit. Außerdem wartete Lila auf meinen Anruf. Ich ging die Hasenbergsteige hinunter, vorbei an dem gelben Plastikbanner in einem privaten Garten, auf dem in riesigen Lettern die Worte »Neubau stoppt Frischluft für Westen und Innenstadt« prangten. Weiter unten, unterhalb der Karlshöhe, residierte auf der rechten Seite die Bach-Akademie in einer alten Villa. Meine Mutter hatte uns Kinder früher hin und wieder zu den großen Rilling-Konzerten in die Liederhalle mitgenommen. Johannes-Passion, h-Moll-Messe. Jetzt fehlte mir dafür das Geld. Ob Mutter wohl noch ins Konzert ging? Wann hatte ich sie überhaupt das letzte Mal gesehen? Ich sah Bachs Büste über dem Eingang fragend an. Bach war klug genug, sich herauszuhalten, und hüllte sich in Schweigen.
Beim Gänsepeterbrunnen überquerte ich die Reinsburgstraße. Gänsepeter war ein bisschen grünlich angelaufen und
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