Lauras Bildnis
eine junge Frau. Ich verbarg mich hinter einer der Säulen und beobachtete sie.
Sie trug Jeans und ein weißes Unterhemd mit dünnen Trägern und Spitzenrändern. Es war naß. Man sah es an der Genauigkeit, mit der der Stoff die Formen ihres Oberkörpers nachmodellierte. In den Händen hielt sie eine Bluse, die sie über den Flammen der Opferlichter hin und her bewegte und drehte und wendete, offenbar um sie zu trocknen. Ich spürte den kalten rauhen Stein der Säule an meiner Schläfe und Wange, während ich zusah, wie sie jetzt auch noch ihr Unterhemd auszog. Ihre Nacktheit wirkte jungfräulich. Lucas Cranach hat Frauen so gemalt. Die Haut wie frisch gefallener Schnee, auch wenn ein gelblicher Schimmer über ihr lag wie die natürliche Patina eines schön gealterten Bildes. Ich war enttäuscht, als sie die grüne Bluse anzog und nun damit begann, das Unterhemd in der gleichen Weise zu trocknen. Sie hielt das Kleidungsstück dabei so nahe an die Flammen, daß Dampfschlieren aufstiegen. Ich wartete in meinem Versteck auf den nächsten Akt dieses Schauspiels. Irgendwann würde sie die Kleidungsstücke wechseln und das Bild ihrer Nacktheit erneut enthüllen. Doch wieder wurde ich enttäuscht. Sie stopfte das Unterhemd in einen Rucksack, der am Sockel der Pietà lehnte. Dann streifte sie sich das Gepäckstück über und ging davon.
Jetzt erst merkte ich, wie sehr mir die eine Hälfte meines Gesichtes weh tat. Ich hatte die verletzte Seite mit dem großen Pflaster gegen den Stein gepreßt.
Auch ich ging hinaus in den inzwischen hellen Tag. Es hatte aufgehört zu regnen. Alle Dinge sahen klar und frisch gewaschen aus. Ich suchte sie mit den Augen, aber vergeblich. Nicht einmal ihr Gesicht hatte ich richtig gesehen.
Ich fuhr zu dem Laden, und es gelang mir tatsächlich, fünfzig Gramm Störleim zum Wucherpreis von 200 Mark zu erstehen. Normalerweise hätte ich mich gefreut. Ich war jedoch immer noch in der gedrückten Stimmung, mit der ich am Morgen aufgewacht war. Später, in meinem Arbeitszimmer, saß ich lange tatenlos im Ledersessel und blickte abwechselnd auf das Bild der Gentildonna und zum Fenster hinaus, als könnte ich dem Zufall in die Karten gucken.
Etwas war geschehen, von dem ich nicht wußte, was es war. Und dies hat immer die gleiche Wirkung: Wenn Ahnung und Wissen auseinanderfallen, entsteht eine seltsame Melancholie des Wartens. Unruhe und Apathie durchdringen einander, ohne ihre Grundeigenschaften dabei einzubüßen. Ich war an diesem Tag erst spät in meinem Zimmer, und auch hier saß ich noch lange in der Nähe des Fensters.«
Francesco hielt inne und versuchte, auf seine Armbanduhr zu sehen. Doch es war inzwischen zu dunkel, und es gelang ihm nicht, die Zeit abzulesen. Da Bazin sich gerade wieder eine seiner Zigaretten anzündete, näherte sich Francesco und ließ das Zifferblatt von der Zigarettenglut beleuchten. Dann setzte er sich wieder.
»Ich habe Ihrer beider Geduld lange strapaziert. Dennoch möchte ich noch ein wenig weitererzählen, denn es ist mir unmöglich, hier eine Zäsur zu machen.
Ich glaubte damals, viel Zeit zu haben. Zeit war mir etwas, das ich im Überfluß zu besitzen schien. Ein Restaurator, der seine Arbeit ernst nimmt, läßt sich Zeit. Schließlich hat er es mit Gegenständen zu tun, die sehr viel davon gespeichert haben. Der Maler hat Zeit ins Bild gemalt, und die Zeit hat sich anschließend als Maler betätigt. Manchmal denke ich, ein Bild ist eine Art Tresor für Zeit, und Zeit ist auch der einzige Schlüssel, mit dem er sich öffnen läßt.
Ich ging an diesem Morgen mit dem festen Entschluß zur Arbeit, zunächst die dringendsten Aufträge zu erledigen, zum Beispiel die drei expressionistischen Bilder reisefertig zu machen, um mich dann erst, vielleicht nach Dienstschluß, in aller Ruhe mit der Gentildonna zu beschäftigen. Es war wirklich ein schöner Morgen. Er ließ zum erstenmal in diesem Jahr etwas von kommender Herbstkühle ahnen. Die Luft war frischer als gewöhnlich, die Farben blautoniger und die Konturen der Dinge deutlicher, als hätte man sie mit einem feinen harten Bleistift umrandet.
In meiner Werkstatt warf ich der Gentildonna einen kurzen Blick zu. Er sollte sagen: ‘Sei nicht eifersüchtig, ich bin in Gedanken bei dir.’ Die Morgensonne fiel so durch die trüben Scheiben, daß ihr Gesicht im Schatten lag, Reflexe ihres Kleides jedoch einen meergrünen Schimmer im Raum verbreiteten. Er lag auch auf dem kalkweißen Leib des Mädchens, über den
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