Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lauras Bildnis

Titel: Lauras Bildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boetius
Vom Netzwerk:
oder denkt, was die anderen neidisch macht. Es reicht in der Regel, daß man den heimlichen Anspruch hat, glücklich zu sein, um sich zum Opfer zu eignen. Wenn man aber gar nichts will, weder von sich, vom Schicksal, noch von anderen, dann ist man genauso gut und schlecht wie die Luft, die alle atmen müssen. Es ist der beste Schutz, den es gibt.’
    ‘Und warum diese seltsamen Ecken?’ fragte ich.
    ‘Das ist nicht schwer zu begreifen. Zwei Straßen stoßen rechtwinklig aufeinander. Man muß also die Richtung ändern, und dennoch bleibt alles gleich. Diese Tatsache ist absurd. Jeder spürt sie, wenn er in diese mehr komische als verzweifelte Situation kommt. Und in jedem Gesicht erkenne ich das Ergebnis: eine wirklich kuriose Mischung aus Ärger und Neugier. Man könnte auch sagen, aus Resignation und Hoffnung. Egal, ob es der Polizist oder der Verbrecher ist. Beide haben sie den gleichen Gesichtsausdruck im Augenblick, da sie um die Ecke biegen. Ich mag das. Es bestätigt mich in der Annahme, daß die Entdeckung der Individualität in der Renaissance unvollständig war. Die Anonymität hat sich nicht völlig besiegen lassen. Damals ging die Menschheit um eine Ecke ihrer Geschichte, und sie machte das gleiche verdutzte Gesicht.’
    Als Dr. Labisch ging, sah ich ihm nach. Er bog um eine von einer Laterne beleuchtete Ecke. Gar zu gerne hätte ich in diesem Moment seinen Gesichtsausdruck gesehen.
    Dann trank ich den letzten Rest Rotwein. Ich schmeckte Süße und Bitternis deutlicher als je zuvor. Ich weiß noch, daß ich wieder die Schubertplatte auflegte, zum x-ten Male an diesem Tag. Ich habe eine Weile mit mir geflüstert wie in einem gefährlichen Dialog. ‘Laura’, murmelte ich, ‘so heißt du also.’«
    Francesco erhob sich und drehte seinen Zuhörern den Rücken zu. Ein lauwarmer Wind war aufgekommen. Man hörte Stimmen vom Dorf. Er begann, langsam und vorsichtig den Abhang hinabzuklettern. Als er auf dem Weg war, holte Bazin ihn ein. Der klopfte ihm kurz mit der Hand auf die Schulter. »Morgen hören wir weiter«, sagte Bazin. »Wo ist Madame Régusse?« fragte Francesco. »Sie wird uns später folgen. Sie kennt den Weg. Ich glaube nicht, daß sie großen Wert auf unsere Begleitung legt.«

Zweiter Abend

    Ich wußte nun ihren Namen«, begann Francesco, als sie am folgenden Tag wieder in der Höhle saßen. »Aber sonst wußte ich nichts von ihr. Ich hatte sie einmal kurz mit nacktem Oberkörper gesehen. Ich hatte einen gewissen Eindruck von ihrem Wesen, soweit es sich in ihren Bewegungen ausdrückte. Was mich jedoch am meisten verwirrte, war ihre unglaubliche Ähnlichkeit mit dem Porträt der Gentildonna.«
    Er hielt inne und sah zu Madame Régusse hinüber. Es hatte ihn viel Überredungskunst gekostet, sie zum Wiederkommen zu bewegen. »Es gibt vieles, womit ich nicht einverstanden bin«, hatte sie gesagt und ihn dabei fest angesehen. Er wußte nicht, ob sich diese Aussage auf sein Erzählen bezog oder allgemeiner zu gelten hatte. Er hatte gebettelt und gedroht. Er würde sein Zimmer aufgeben, wenn sie nicht käme. »Warum bestehen Sie darauf?« hatte sie eingewandt. »Ich bin eine schlechte Zuhörerin. Es ist mir fast unmöglich, mich in andere Menschen hineinzuversetzen.« Nun saß sie doch da, und er war froh darüber. Wie immer hielt sie sich aufrecht, und ihr Gesicht zeigte keinerlei Reaktion.
    »Samstag früh rief meine Frau an. Ihre Stimme klang verändert. Ich nehme an, daß dies an meiner Art zu hören lag. Meine Frau sagte, sie würde jetzt in die Stadt fahren, um an der Universität eine Veranstaltung zu besuchen. Mittags käme sie dann zu mir.
    Ich begann, mein Zimmer zu putzen und aufzuräumen. Es versprach ein schöner Tag zu werden. Warm und wolkenlos. Das schöne Wetter erfüllte mich mit Mißtrauen. Die penetrant blaue Farbe des Himmels kam mir gefälscht vor. Während ich Sessel und Möbel verrückte und den Boden staubsaugte, dachte ich an Laura. Ich sah ihr Gesicht vor mir. Sie saß in der Pose der Gentildonna vor einem geöffneten Fenster, von dem warme, nach Lavendelfeldern duftende Luft hereinströmte. Dann dachte ich an meine Frau. Sie hat ein Madonnengesicht. Ihre langen braunen Haare trägt sie meistens zu einem Knoten verschlungen. Ihre großen blauen Augen sind mir immer vorgekommen, als gehörten sie nicht ihr, sondern einem Kind, das sich in ihrem Körper versteckt hat.
    Um zwei Uhr kam sie. Sie sah schlecht aus. Es ginge ihr nicht gut, sie würde bestimmt eine Migräne

Weitere Kostenlose Bücher